Mutter Zivilcourage
Auf den ersten Blick ist Rusciori bei Hermannstadt in Siebenbürgen ein Dorf wie viele in Rumänien. 700 Einwohner, eine Kirche, eine Dorfschule. Und eine unsichtbare Grenze zwischen zwei Welten: Die Welt der Rumänen und die der Roma. „Rumänen“ hier, „Roma“ dort: Allein die Begriffe, die verwendet werden, verraten viel. Denn natürlich sind die Roma auch Rumänen.
Und doch ist hier etwas ist anders. 26 junge Roma, die in Rusciori leben, besuchen weiterführende Schulen oder lernen einen Beruf. Sechs Mädchen und Jungen büffeln im Gymnasium. Viele Erwachsene arbeiten: sie schaffen auf dem Bau, bewirtschaften Felder oder verdienen ihr Geld als Reinigungskräfte. Freunde werden Rumänen und Roma wohl auch in Rusciori nicht. Doch hier, knapp 300 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Bukarest, bewegt sich die Minderheit in kleinen Schritten in Richtung Mitte der Gesellschaft.
Kürzlich berieten Beamte, Roma-Vertreter und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen im Rathaus von Hermannstadt, wie man die Roma integrieren kann. Irgendwann stand der Polizeichef auf und sagte, es gebe ein einziges Dorf in der Gegend, in das seine Leute schon lange nicht mehr gerufen wurden, um Streit zwischen Rumänen und Roma zu schlichten: Rusciori. „Und wissen sie warum?“, fügte er hinzu. „Wegen dieser alten Sächsin.“
Was der Polizist nicht wusste: Die „alte Sächsin“ war ebenfalls im Raum. Hermine Jinga-Roth, 75 Jahre alt, das Haar streng hochgebunden, schmunzelt, als sie die Anekdote erzählt. „Er wurde ein bisschen rot“, sagt sie und rollt das „R“ dabei so schön wie Märchenerzählerinnen in Hörbüchern. Selten würdigen Menschen ihr Engagement für die Roma. Sie und ihre Mitarbeiter helfen bei Hausaufgaben und Bewerbungsschreiben, sie organisiert Mittagessen und unterstützt sie bei Behördengängen.
„Arme an den Oberkörper, mein Schatz“
Es ist Punkt 13 Uhr, als die Glocke vor dem alten Pfarrhaus läutet, und 40 Kinder zu den Wasserhähnen stürmen: Hände waschen. Wenig später sitzen sie an langen Holztischen und schöpfen sich Kartoffelsuppe auf die Teller, beten gemeinsam, greifen zu den Löffeln und essen. Hermine-Jinga Roths Blick wandert durch die Reihen. Hält ein Kind den Löffel falsch, gibt sie ihm Nachhilfe. Und wenn ein Kind „Domna“ zu ihr sagt, statt „Doamna“, wie man die höfliche Anrede einer Dame richtig ausspricht, korrigiert sie es. Lässt es zwei, drei Mal „Doamna“ sagen, bis das Wort sitzt.
Man könnte Hermine Jinga-Roth für eine strenge Frau halten. Für eine Zuchtmeisterin alter Schule. Doch das sie nicht. Ihr wacher, aber liebevoller Blick erinnert eher an eine gute Fee. Eine Fee, die jetzt aufsteht, sich hinter ein Kind stellt, ihm die Hände auf die Schultern legt und sagt: „Sitz gerade und nimm die Arme an den Oberkörper, mein Schatz. Als hättest du zwei Vögelchen unter den Achseln, die nicht wegfliegen dürfen.“ Und der Unterschied zwischen „Domna“ und „Doamna“, erklärt sie, besteht eben nicht nur in einem Vokal. „Domna“ ist Roma-Slang. Ein Stigma. „Etikette und Sprache sind Schlüssel zu Türen, die Roma oft verschlossen bleiben.“
Keine Minderheit in Südosteuropa wird so systematisch ausgegrenzt wie die Roma. „Sie waren bis vor 150 Jahren noch sogenannte ‚Robi’, also Sklaven“, sagt Hermine Jinga-Roth. 1856 wurde die Sklaverei in Rumänien abgeschafft. Die Roma wurden von den Höfen gejagt und gingen auf Wanderschaft.
„Jahrhunderte der Versklavung und Vertreibung haben dazu geführt, dass viele Roma nicht weit über den Tag hinaus planen“, sagt Jinga-Roth. Eine „Carpe-Diem-Mentalität“ quasi, die von Außenstehenden einerseits romantisiert, andererseits als Beweis dafür angeführt wird, dass die Roma nicht anpassungsfähig sind. „Sie sind in einem Teufelskreis aus mangelnder Bildung, Arbeitslosigkeit und Armut gefangen.“ Die Frage sei nun, ob die Vergangenheit ihr Leben für immer bestimmt. Oder ob sie sich von ihr lösen können.
Widerstände aushalten
Jinga-Roth möchte, dass die Roma einen Platz in der modernen Gesellschaft finden. Deshalb hat die pensionierte Lehrerin ein Tageszentrum gegründet. Mittagessen, Hausaufgabenhilfe, Sport und Spiel: Das Angebot richtet sich an alle Kinder im Dorf, doch die Eltern der rumänischen Kinder möchten nicht, dass ihr Nachwuchs mit den Roma spielt. Also kommen eben nur die Roma.
Neben Jinga-Roth arbeiten zwei rumänische Erzieherinnen und fünf junge Freiwillige aus Deutschland für das Projekt, das vom rumänischen Staat sowie von internationalen Spendern und Sponsoren finanziert wird. Die Helfer aus Deutschland kommen meist direkt nach dem Abitur und bleiben für ein „Freiwilliges Soziales Jahr“. Wenn sie ein wenig Rumänisch gelernt haben, besuchen sie die Kinder zu Hause und machen mit ihnen Hausaufgaben.
Wer Roma helfen will, muss zum einen die Sprüche der „Skeptiker“ aushalten, die in Wahrheit Rassismus verbreiten – etwa wenn sie sagen, Arbeit liege den Roma eben nicht im Blut. Das Stehlen schon eher. Doch wie viele Roma leben, resultiert nicht aus einer genetischen Bestimmung, sondern ist Ergebnis einer jahrhundertealten Sozialisation.
Wer Roma helfen will, muss aber auch die Widerstände der Roma aushalten. So beklagte sich eine Mutter bei Jinga-Roth: Ihre Kinder wollten neuerdings jeden Abend die Zähne putzen. Eine andere erzählte, es gebe Zoff zu Hause: Der Vater hatte beim Essen den Kopf auf die Hand gelehnt. Da sagte der Sohn: „So sitzen nur Säufer am Tisch!“ Jinga-Roth schmunzelt und sagt: „Vielleicht muss ich mich ein wenig zügeln.“
Nachhilfe im Pfarrhaus
Wer Roma helfen will, trifft immer wieder auch auf Menschen, die sagen, man dürfe die Roma-Kultur nicht zerstören durch zu viel Zwang zur Anpassung. Ihre Sprache, ihre Handwerkskunst, ihre Musik, ihr Tanz müssen geschützt werden. „Die Kultur schon“, sagt Jinga-Roth. „Die Armut nicht.“ Und sie erzählt, wie das Projekt entstand.
1990 war das, direkt nach dem Sturz Ceausescus. Hermine Jinga-Roth, damals Leiterin der Deutschen Schule in Bukarest, kündigte ihre Stelle und mietete das leer stehende Pfarrhaus in Rusciori. Sie eröffnete ein Schullandheim. Zwischen Wäldern, Feldern und Ställen stand „Öko-Soziale Erziehung“ auf dem Programm. So nannte die Schulbehörde das. Jinga-Roth nannte es: „Die Zukunft Rumäniens“. Es ging um Respekt vor der Natur, um die Schönheit des einfachen Lebens und um basales Wissen über Pflanzen und Tiere. „Es gab damals Kinder, die dachten, dass Kühe lila sind.“
Auf einem Spaziergang durchs Dorf besuchte sie eine Roma-Familie. Die Kinder waren allein zuhause. „Habt ihr denn etwas zu Essen?“, fragte Jinga-Roth. „Ja“, antwortete die Älteste und zeigte ihr fünf gekochte Kartoffeln. Eine für jedes Kind. Jinga-Roth begriff, dass der Hunger nur eine Tür weiter zu Hause war. Sie sammelte Sachspenden für die Roma, merkte aber, dass das nicht reichte. „Man darf ihnen keine Fische geben. Man muss sie das Angeln lehren“, sagt sie. Ab dem Jahr 2000 bot sie Mittagessen und Nachhilfe im Pfarrhaus an. Fortan hatte sie zwei Projekte: Ein Schullandheim und ein Tageszentrum. In den Ferien kamen die Stadtkinder, während der Schulzeit die Roma.
Kühne Träume
25 Jahre nach seiner Gründung hat Hermine Jinga-Roth das Schullandheim wieder geschlossen. Die Roma brauchen sie mehr, findet sie. Und so soll das Tageszentrum ausgebaut werden. Die Stiftung, die es betreibt, hat der Kirche die leer stehende alte Dorfschule für einen symbolischen Betrag abgekauft. Hier soll es künftig Nachhilfe für Schüler ab der fünften Klasse und Alphabetisierungskurse für Erwachsene geben. Im Gemeinderat gab es Widerstand gegen die Pläne. Doch als Jinga-Roth anbot, Rusciori zu verlassen, bat man sie, zu bleiben. Wer den Roma helfen will, braucht einen langen Atem. „Man muss sich reinknien“, sagt Hermine Jinga-Roth. Aufopfern wäre vielleicht das bessere Wort.
Am Nachmittag feiern die Viertklässler ihren Abschied aus dem Tageszentrum. Sie tragen traditionelle Gewänder und führen Roma-Tänze auf. Später sitzen sie zusammen und Hermine Jinga-Roth fragt sie, was sie werden möchten. Ein Junge sagt „Chauffeur“, ein Mädchen „Köchin“. Ein Mädchen sagt: „Ich möchte Ärztin werden.“ „Dann wirst du viel lernen müssen“, entgegnet Hermine Jinga-Roth. Das Mädchen nickt. Jinga-Roth weiß, dass es mit viel lernen nicht getan ist, aber die Antwort zeigt ihr doch, was sie und das Projekt erreicht haben: Sie haben einen Ort geschaffen, an dem kühne Träume ausgesprochen werden. Ein Roma-Mädchen aus dem Ort will Ärztin werden. Das war vor Jahren noch undenkbar.