Litauen

Die Generation „Vakuum“

Vilnius (n-ost). Tiefe Bässe rollen durch den großen Saal, der in tiefem Dunkel liegt. Plötzlich schiebt sich ein hohes Fiepen darüber, lang anhaltend, dann bricht es ab, so unvermittelt wie es eingesetzt hat. Aus tiefen und ganz tiefen Klängen baut sich wummernd und kratzend ein Geräuschwall auf. Im Dunkel lassen sich schemenhaft Menschen erkennen. Rechts und links von ihnen zwei überdimensionale Bühnen, vollgestopft mit diversen elektronischen Geräten der Klangerzeugung, Verstärkung, Verzerrung.
Gespenstisch sieht es aus, an diesem Freitagabend kurz vor Mitternacht im CAC, dem Zentrum für Zeitgenössische Kunst. Der sonst von Licht durchflutete Ausstellungsraum hat sich in einen Technoklub der besonderen Art gewandelt. Drei Abende ziehen die „Elektro-Tage“ vorwiegend junges und sehr junges Publikum in die Kunsthalle der litauischen Hauptstadt Vilnius.
„Ein Nebenprojekt“, sagt Kestutis Kuizinas, der Direktor des Zentrums, lächelnd. Seit 1993 steht er an der Spitze des Zentrums. Ein alter Mann, sollte man denken. Doch Kestutis Kuizinas ist erst 36 Jahre alt. „Eigentlich war ich damals noch zu jung“, meint er und grinst – mit 23 Jahren hatte er gerade seinen Abschluss in Kunstgeschichte in der Tasche.
Es war eine besondere Situation entstanden, nach über 40 Jahren staatlich verordneter Sowjetkultur. „Wir sind in ein wahres Vakuum gestoßen“, erzählt Gediminas Urbonas, einer der bekanntesten Schöpfer moderner Kunst in Litauen und selbst gerade erst 36 Jahre alt geworden. „Wir waren privilegiert. Die Künstler der sowjetischen Zeit wussten nicht, was tun, sie waren vollkommen ruiniert.“

Sie waren Jahrzehnte lang in den Künstlervereinigungen organisiert gewesen und an eine strenge Hierarchie gewöhnt. Nun plötzlich kamen die Absolventen der Kunstakademie und wollten alles anders machen „Ich sollte das Ausstellungsprogramm gemäß einer Liste mit den runden Geburtstagen des kommenden Jahres planen“, erinnert sich Kestutis Kuizinas an die ersten Monate seiner Arbeit.
„Doch ich hatte eine klare Idee, was zu tun ist“, fährt er fort. Zunächst wurde dem CAC, das damals noch „Kunstausstellungspalast“ hieß, der neue Name verliehen. „Das haben sie noch nicht ernst genommen. Sie haben gedacht, das ist so eine Mode, das geht vorbei.“
Doch es ging nicht vorbei. Kuizinas stellte wirklich moderne Kunst aus, das Meiste waren Werke seiner Alters- und nicht selten auch Studiengenossen. Hinzu kam die Unterstützung seitens der ausländischen Botschaften, die viele Künstler ihrer Heimatländer ins CAC holten. Heute sieht Kuizinas seine Ausstellungshalle als „berüchtigste Institution“ im Neuen Europa und als eine der führenden Kunsthallen für innovative Kunst.
Das will auch Lolita Jablonskiene vom Informationszentrum für Zeitgenössische Kunst in Vilnius nicht in Abrede stellen. Doch dass das CAC die internationale Karriere litauischer Künstler aufbaue, bestreitet sie vehement: „Im Gegenteil, das CAC hätte nicht seine Reputation, hätten unsere Künstler nicht ihre eigene internationale Karriere aufgebaut.“ Litauische Künstler, sagen beide, seien überdurchschnittlich auf internationalen Ausstellungen vertreten.
Einer von ihnen ist Gediminas Urbonas. Zusammen mit seiner Frau Nomeda war er vor zwei Jahren als erster Künstler aus dem Baltikum auf der documenta in Kassel mit der visuellen Dokumentation „transaction“ vertreten. „Wir haben irgend wie überlebt“, sagt er und blickt zurück auf die vierzehn Jahre Moderner Kunst im Baltikum.

Es herrschte Pioniergeist, als sie sich 1993 zu einer großen Gruppe zusammen fanden, um im seit dem Moskauer Putsch gegen Jelzin leer stehenden „Palast der Eisenbahner“ ihr von allen Staatszwängen befreites Kulturzentrum „jutempus“ aufzuziehen.
Hier fanden Konzerte und Performances statt, hier konnte „man auch mal einen Nagel in die Wand schlagen“, wie Gediminas den von ihm geleiteten Ausstellungsraum beschreibt. Doch ohne ausreichende finanzielle Unterstützung bröckelte der Idealismus. 1997 verließen die letzten Künstler den unbeheizten Palast. „Jetzt kommt die Kunst wieder mehr und mehr unter zentrale Kontrolle. Der Kapitalismus bietet doch nur eine sehr relative Freiheit“, resümiert Gediminas Urbonas.
Einerseits, so bestätigt Lolita Jablonskiene, seien die baltischen Regierungen sehr daran interessiert, sich mit moderner Kunst als fortschrittliche Staaten zu präsentieren, andererseits gebe es kaum Geld und in der Gesellschaft fehle die Basis: „Es gibt im Baltikum kein funktionierendes Netz privater Galerien und nur eine Handvoll interessierter Sammler.“ Zudem sei das Ausbildungssystem immer noch sehr geschlossen, internationaler Austausch finde kaum statt: „Hier regieren noch die Alten.“

Immerhin gibt es in Tallinn (Estland) und Vilnius mittlerweile konkrete Pläne, in den nächsten Jahren jeweils ein Museum für Moderne Kunst zu errichten. „Dann sind es in Litauen immerhin schon zwei Institutionen“, meint Lolita Jablonskiene und hofft, dass das CAC damit endgültig etabliert sein wird.
In Lettland, dessen Hauptstadt Riga die größte Stadt im Baltikum ist, ist dagegen keine Plattform für Moderne Kunst in Sicht. Das habe aber auch seine gute Seite, so Gediminas Urbonas: „Dieser Mangel hat viel Bewegung von unten und staatsunabhängige Einrichtungen hervor gebracht.“ Und verhindert, dass die Moderne Kunst Gefahr läuft, zu erstarren, weil ihre jugendlichen Vertreter schon seit über einem Jahrzehnt die institutionalisierte Kunstszene lenken.

ENDE


Weitere Artikel