Der lange Schatten von Tschernobyl
Pünktlich auf die Minute fährt der Vorortszug aus Slawutitsch nach Tschernobyl ab. Es ist später Vormittag, nur wenige fahren jetzt noch ins 50 Kilometer entfernte Kernkraftwerk zur Arbeit. „Ich sitze bereits in der Pjannaja, wir sehen uns an der Station“, ruft ein junger Mann in sein Handy. Pjannaja, „die Betrunkene“ – so nennen die Arbeiter den späten Zug. Wer erst jetzt damit zur Arbeit fährt, hat wohl am Vorabend zu lange gefeiert, heißt es.
Vor dem Kraftwerk erinnert ein Denkmal in Form zweier Hände, die einen Reaktor umschließen, an die Katastrophe vom 26. April 1986. „Für die Helden, die die Welt vor dem radioaktiven Unglück schützten“, ist dort zu lesen. Im Hintergrund, eingezäunt mit Stacheldraht und hinter schweren Sicherheitstüren, erhebt sich grau das AKW. Der damals hastig über dem explodierten Reaktor Nummer vier erbaute Sarkophag aus Stahl und Beton macht einen baufälligen Eindruck, an der Seite sind Gerüste angebracht. Unmittelbar daneben ragt die glänzende, gigantische Stahlkonstruktion der neuen Hülle in die Höhe, die angeblich Schutz für die nächsten 100 Jahre verspricht.
Zwei Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt, in Prypjat, lebte 1986 Elena Germanowitsch gemeinsam mit ihrer Familie. Mit nassen Tüchern vor den Fenstern hätten sie damals versucht, sich vor der Radioaktivität zu schützen, so erzählt es die 53-jährige Frau, die heute mit der Organisation Green Cross Ukraine zusammenarbeitet und Tschernobyl-Betroffenen hilft. Am Tag nach dem Unfall wurde die ganze Stadt mit Autobussen evakuiert, erzählt sie.
Eine überwucherte Geisterstadt
„Erst hieß es, wir müssten die Stadt nur für drei Tage verlassen. Später durften wir aber nicht mal mehr zurück, um unsere Sachen zu holen“, sagt Germanowitsch. Im Radius von 30 Kilometern wurde eine Sperrzone um das AKW errichtet. Wind und Regen verteilten den radioaktiven Fallout allerdings weit darüber hinaus. Rund fünf Millionen Menschen wohnen heute in der Ukraine, Russland und Belarus in Gebieten, die immer noch als radioaktiv kontaminiert gelten.
Zum Zeitpunkt des Unfalls zählte Prypiat 49.000 Einwohner. Heute ist es eine Geisterstadt, die langsam von der Natur überwuchert wird. Riesige Sowjet-Embleme prangen auf den Dächern, während unmittelbar daneben Bäume aus den Gebäuden wachsen. Etwas weiter in einem Wäldchen führt eine baufällige Freitreppe zu einer Bootsanlegestelle und einem halb verfallenen Café mit Flussblick. Ausflugsboote fuhren früher von hier direkt bis ins 190 Kilometer entfernte Kiew.
„Bis auf das Gebell der zurückgelassenen Hunde war die Stadt leer“, erinnert sich Willi Prokopow an die Zeit unmittelbar nach der Katastrophe. In zweiwöchigen Schichten mussten sie als „Liquidatoren“ am havarierten Reaktor arbeiten, sagt Prokopow, der zuvor Ingenieur im AKW war. Aus Angst vor der Radioaktivität seien viele vor der Arbeit geflohen. Etwa die Hälfte seiner Kollegen kehrte nach dem Unfall nicht mehr zu den Liquidationsarbeiten nach Tschernobyl zurück, erzählt der heute 76-Jährige.
Abhängig vom Kraftwerk
Mit einem immensen Personalaufwand versuchte die Sowjetunion, die Katastrophe unter Kontrolle zu bekommen. Rund 600.000 Soldaten und Arbeiter kamen zum Einsatz, oft unter lebensgefährlichen Bedingungen und gravierenden Folgen für die eigene Gesundheit. Wie viele von ihnen heute noch am Leben sind, weiß keiner.
Als Ersatz für die evakuierte Stadt Prypjat wurde im Jahr 1986 Slawutitsch gegründet. Auch 30 Jahre nach dem Unfall ist das AKW immer noch der größte Arbeitgeber für die 25.000 Einwohner zählende Stadt. 3.500 von ihnen arbeiten in Tschernobyl, obwohl der letzte Reaktor bereits 2001 stillgelegt wurde. Viele Arbeiter sind am Bau der neuen Schutzhülle beteiligt, die vom internationalen Novarka errichtet wird. Laut Plan wird die neue Hülle im Jahr 2017 über den alten Sarkophag geschoben. Ein Großteil der Arbeitsplätze wird danach wegfallen.
Zukunftsangst treibt die Menschen in Slawutitsch um. Sie hoffen auf Investoren aus dem Ausland, die neue Arbeitsplätze schaffen sollen. Zwei Fabriken, die von russischen Investoren eröffnet wurden, haben ihr Geschäft allerdings wieder eingebüßt. Die Stadtverwaltung habe seit der Stilllegung des Kraftwerks zu wenig unternommen, um das unaufhaltsame Sterben von Slawutitsch zu verhindern, ist von den Einwohnern zu hören.
Erschwerend kommt hinzu, dass die ukrainische Regierung den Tschernobyl-Betroffenen im Januar einen Teil ihrer Vergünstigungen gestrichen hat – etwa kostenloses Schulessen für Kinder, Aufenthalt im Sanatorium oder günstigere Medikamente. Das Geld werde für den Krieg im Donbass gebraucht, erzählt man sich. „Niemand weiß, was hier nach 2017 geschehen wird“, sagt Dmytrii Kortschak von der Regionalentwicklung in Slawutitsch. Ohne neue Projekte beim AKW sei eine Zukunft für die Stadt jedoch kaum denkbar.
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Quellen:
Eigene Interviews in Slawutitsch im April 2016