Ungarn

Lebendige Vergangenheit in Budapest


Budapest (n-ost) - Vor sechzig Jahren, am 16. April 1944, begann eines der besonders dunklen Kapitel in der Geschichte des Holocaust: In 56 Tagen deportierte die ungarische Regierung, die nach der deutschen Besatzung mit den Nationalsozialisten kollaborierte, 437.302 ungarische Juden nach Auschwitz-Birkenau. Fast alle starben dort in den Gaskammern. Jeder dritte in Auschwitz ermordete Jude stammt aus dem Land der Magyaren. Auch gab es in Ungarn, dem einstigen k.u.k.-Vielvölkerstaat, schon seit 1920, also lange vor den Nürnberger Rassegesetzen von 1935, antisemitische Gesetze, etwa eine „jüdische Quote“ an den Universitäten. Dennoch tut man sich mit der Aufarbeitung des ungarischen Holocaust bis heute schwer. Jüngst warnte Literaturnobelpreisträger Imre Kertész zudem vor einem verdeckten osteuropäischen Antisemitismus. Der Anlass: Ein Vorstandsmitglied aus dem ungarischen Schriftstellerverband hatte sich antijüdisch geäußert; fast hundert Autoren, darunter Péter Esterházy, György Konrád oder Zsófia Balla, traten deshalb im März aus dem Verband aus.

Das nun letzte Woche zum 60. Jahrestag der ungarischen Judenvernichtung in Budapest eröffnete „Holocaust Memorial Center“ könnte durchaus einen Wendepunkt in der ungarischen Vergangenheitsbewältigung markieren. Parallel dazu wurde die seit Jahren geschlossene ungarische Ausstellung in Auschwitz mit neuem Konzept unter dem Titel „Der verratene Staatsbürger“ wiedereröffnet. Es ist nicht nur das erste Holocaust-Museum in Osteuropa, der ungarische Staatspräsident Ferenc Mádl betonte während des feierlichen Staatsakts vor allem, dass der Holocaust auch ein Teil der ungarischen Geschichte sei – als „lebendige Vergangenheit“. Ein die Eröffnungstage begleitendes internationales Symposium sollte unter anderem diesen Umstand erhellen. Renommierte Holocaust-Forscher wie Paul Shapiro, Simone Weil oder David Bankier, sprachen Themen an, die bisher eher tabuisiert waren: die Rolle der ungarischen Polizei bei den Deportationen, die Enteignung der jüdischen Bürger oder Zwangsarbeit von Roma. Damit die Ergebnisse weitere Kreise als die der Historiker erreichen, werden alle Vorträge vom ungarischen Kulturministerium veröffentlicht und an Schulen und Universitäten verteilt. Damit wird der Haupterkenntnis der Konferenz Rechnung getragen: Erinnerung hat immer auch mit Bildung und Erziehung zu tun. „Wenn wir zu Europa gehören wollen, bedeutet das mehr, als Shopping-Zentren aufzustellen, sondern auch europäische Werte der Vergangenheitsbewältigung zu akzeptieren“, mahnte die Budapester Pädagogin Mónika Kovács.

Der erste Schritt in diese Richtung ist das Holocaust-Museum, das auch als Unterrichts- und Fortbildungsstätte dienen wird. Sieben Millionen Euro kostete der Neubau des ungarischen Architekten István Mányi; die kargen Elemente des von hohen, hellen Mauern aus indischem Quazit umgebenen Gebäudes assoziieren Freiheit und Unfreiheit. Schießschartenartige Fenster sind hoch oben in die Mauer eingeschnitten, Einblicke gestatten sie nicht: Man denkt an die strengen Sicherheitsvorkehrungen zur Eröffnung in Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten Mosche Katzav. Wenige Tage zuvor waren drei Männer arabischer Herkunft in Budapest verhaftet worden – wegen eines mutmaßlichen Anschlags auf Katzav.
Hinter der roh belassenen Steinmauer verbirgt sich jedoch ein architektonisches Kleinod, das vom Eingang und dem Atrium-Innenhof aus zu bewundern ist: die Synagoge aus dem Jahr 1924. Ihr Architekt war Leopold Baumhorn, ein heute unbekannter Baumeister sakraler Gebäude, der in Ungarn 22 Synagogen errichtete. Das Budapester Gotteshaus war noch bis 1967 regelmäßig von einer neologischen Gemeinde, einem reformierten Zweig des Judentums, genutzt worden. Dann verfiel es.

Die Synagoge ist vom Neubau vollkommen „eingeschlossen“, wie der Architekt es nennt. Sein Entwurf kommt daher wie eine kleinere, bravere Version von Daniel Libeskinds silbrigem Jüdischen Museum in Berlin. Beide Gebäude betonen mit ihren eingedrückten Wänden, frei gestellten Stelen und verunmöglichten Ausblicken die Diskontinuität der Geschichte – der privaten Erzählungen wie der kollektiven Historie – und die Schwierigkeit, sich zu erinnern. Zunächst war geplant, den hellen, freundlichen Synagogenraum im Zentrum der Gedenkstätte leer zu lassen – als Ort des Gedenkens. Nun will man ihn doch für Vorträge, Diskussionen und Filmvorführungen nutzen – als Ort für Begegnungen. Die klaren Formen des Zentrums lassen indes nichts von den jahrelangen Debatten erahnen, die vorausgegangen waren. Es ist der jetzigen sozialistischen Regierung unter Premier Péter Medgyessy hoch anzurechnen, dass sie den Streit um Konzepte am Ende nicht eskalieren ließ.

Dennoch: Ganz zufrieden ist niemand. Die Kritik setzt an bei dem Umstand, dass der Neubau die Synagoge umschließt; dies reduziere das Holocaust-Thema auf eine religiöse Dimension. Auch die provisorische Ausstellung in den Untergeschossen hat Unmut provoziert. Die Präsentation des so genannten „Auschwitz-Albums“, einer Leihgabe von Yad Vashem mit 235 Fotodokumenten von der Ankunft der ungarischen Juden in Auschwitz, demonstriere in alter Manier die deutsche Verantwortlichkeit für den Holocaust. Dritter Streitpunkt: Das Museum liegt dezentral. Das bringt nicht nur praktische Probleme mit sich – wo sollen in der schmalen Seitenstraße Busse parken? –, viele deuten die Randlage auch als erneute „Ghettoisierung“. Das konkurrierende Budapester Geschichtsmuseum „Haus des Terrors“ liegt zentral an der prächtigen Andrássy-Straße. Es war 2002 von den Konservativen aus wahltaktischen Gründen eröffnet worden und stellt höchst pathetisch den kommunistischen Terror dar. Mit moderner Museumsdidaktik und hohem technischem Aufwand werden auf 2.350 Quadratmetern die Leiden der Ungarn im 20. Jahrhundert visualisiert. Kaum ein Wort über die Leiden der ungarisch-jüdischen Bürger unter Mitwirkung der ungarischen Faschisten, der „Pfeilkreuzler“.

Eine Aufklärung über diesen Teil der Geschichte ist notwendig. 55 Prozent der Bevölkerung wissen kaum etwas über den Holocaust. Dabei sind die Juden in Ungarn wieder heimisch geworden: Mit 85.000 Menschen ist der jüdische Bevölkerungsanteil Budapests der größte aller Städte in Mittelosteuropa. Es gibt drei jüdische Schulen, eine Rabbinerausbildung und ein internationales jüdisches Kulturfestival. Synagogen wurden renoviert und für Besucher geöffnet, Reiseveranstalter bieten Touren durch das jüdische Budapest samt koscherer Verkostung an. Besonders die 20- bis 30-Jährigen zeigen sich geschichtsbewusst. Ein Zeichen dafür ist der imposante Fackelzug, den Studenten und Schüler am Donnerstagabend nach der Eröffnung organisierten. Tausende von Menschen zogen zur Donau, um an die Gräueltaten der Pfeilkreuzler zu erinnern. Sie hatten 1944 jede Nacht 50 bis 60 Juden, insgesamt 5000, am Ufer ermordet, indem sie sie aneinander banden und den ersten erschossen. Der Tote zog die anderen mit ins Wasser.

Ob das Museum die breite Bevölkerung erreichen wird? „Achtzig Prozent der Bevölkerung sind katholisch, sie sind nicht am Judentum interessiert“, erklärt eine Museumshostess. Dass es weniger um das Judentum als ungarische Geschichte geht, wurde der Öffentlichkeit trotz der Ministerreden kaum vermittelt. Nirgendwo in der Stadt hängen Plakate oder liegen Informationsbroschüren. Erliegt das Museum einer ungenügenden PR-Strategie? Sogar die ungarischen Medien mussten sich korrigieren: Sie hatten zunächst von einem „Jüdischen Museum“ statt von einem „Zentrum für Geschichte und Dokumentation“ gesprochen. So verwundert es nicht, dass am Abend des ersten Besuchertages nur vereinzelte Grüppchen im Innenhof stehen und der Stimme lauschen, die die Namen ungarischer Holocaustopfer vorliest – nur ein Zehntel sind überhaupt bekannt. Vor der schwarzen Erinnerungswand, die die vorgelesenen Namen zeigt, brennen Kerzen und liegen Gedenksteine. Die Organisatoren haben allerdings in den ersten drei Museumstagen mit 10.000 Besuchern gerechnet. Erst am Wochenende füllen sich die fast leeren Räume und die Schlange vor der Sicherheitsschranke am Eingang führt bis auf die Straße.

Der Holocaust gelte in Ungarn noch vornehmlich als „jüdische Angelegenheit“, so Gábor T. Szantó, Chefredakteur des jüdischen Magazins „Szombat“. Von ihm kam die deftigste Schelte: Das Museum sei eine „Holocaust-Tiefgarage“. Die Ausstellungsfläche sei während der Planungszeit immer stärker reduziert worden und befände sich nun vor allem im Keller. „Ungarns Regierung kann sich damit rühmen, dass das nationale Gewissen etwas erleichtert wird. Viele fühlen aber, dass trotz der heftigen Geburtswehen nur eine kleine Maus heraus kam, ein Torso.“ Auch Szabolcs Szita, wissenschaftlicher Leiter des nun im Museum ansässigen Archiv- und Dokumentationszentrums, das 1990 aus einer privaten Initiative entstanden ist und die ständige Ausstellung planen soll, ist frustriert. „Wir haben jetzt ein teures Gebäude, alle machen ein großes Tamtam, und dann: stille Nacht.“ Es fehlt, wie immer, an Geld. Zwar kooperiert das Zentrum schon mit anderen Holocaust-Einrichtungen, vor allem bei der Lehrerfortbildung und beim Austausch von Dokumenten, aber um bis 2005 eine ständige Ausstellung einrichten zu können, müssen die Kassen gefüllt werden. Szita bleibt dennoch optimistisch. Er hofft, ab Herbst normal arbeiten zu können.

Bis dahin hilft vielleicht die Erfolgsstrategie des Jüdischen Museums in Berlin: Es nutzte seinerzeit die Leere des Neubaus als Publikumsmagnet.

Holocaust Memorial Center, Budapest, Páva utca 39, Di-So 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei.

Informationen unter www.hdke.hu

Nikola Richter
ENDE



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