Eine Reise durch die Ukraine
Auf gut Glück nahm ich einen Überlandbus in Richtung Asowsches Meer. Laut meiner Karte gab es nur eine einzige Landstraße, die von Donezk aus durch den schmalen Südteil des Separatistengebiets bis an die Küste führte. Parallel zur Straße, ein paar Kilometer weiter östlich, verlief die russische Grenze. Irgendwo dazwischen musste der alte Steppenpark liegen, von dem man mir in Donezk erzählt hatte – ein Naturschutzgebiet, in dem die ukrainische Graslandschaft in ihrer ursprünglichen Form konserviert wurde.
Wir verlosen ein Exemplar von Jens Mühlings Buch „Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine“. Wenn Sie an der Verlosung teilnehmen möchten, beantworten Sie uns bitte bis zum 7. April, 11 Uhr, folgende Frage: Welche beiden Gräser wachsen in der ukrainischen Steppe oft nebeneinander? Antworten bitte an abo@ostpol.de. Viel Glück!
Die Landstraße war streckenweise kaum befahren, oft war der Bus das einzige Auto weit und breit. Auf beiden Seiten der Trasse lagen abgeerntete Felder. Gelbe Stoppeln kontrastierten scharf mit der schwarzen, satten Steppenerde, die sich flach bis zum Horizont zog, überwölbt von einem bleiernen Oktoberhimmel.
Ein paarmal passierten wir Kontrollposten der Separatisten, aber keiner der bewaffneten Männer machte sich die Mühe, den Bus anzuhalten. Kurz nach einem Ort namens Telmanowe, in dessen kyrillischer Schreibweise ich erst auf den zweiten Blick den Namensgeber Ernst Thälmann erkannte, standen zwei verlassene, offenbar ausgemusterte Panzer am Straßenrand. Ihre Geschützrohre waren gegeneinander gerichtet, aber das Bild hatte nichts Drohendes, eher sahen die Panzer aus wie zwei Freunde, die im Sterben Halt beim anderen suchten.
Weit und breit nur Äcker
Als nach knapp zwei Stunden Fahrt am Straßenrand ein Ortsschild mit der Aufschrift „Samsonowe“ auftauchte, bat ich den Fahrer, mich an der nächsten Abzweigung abzusetzen. Ein eisiger Steppenwind schlug mir ins Gesicht. Der Bus fuhr weiter und ließ mich alleine zurück. Weit und breit waren weder Autos noch Menschen zu sehen, nur endlose, flache Äcker.
Ich bog in einen kleinen Feldweg ein. Die schmalen Pappeln an den Rändern boten kaum Schutz gegen den beißenden Wind. Nach den ersten paar Minuten zog ich mir meine Kapuze über den Kopf. Zornige Böen jagten um meine Ohren, ihr Pfeifen war so laut, dass ich keinen Panzer gehört hätte, selbst wenn er mir auf den Fersen gefolgt wäre.
Eine gute Stunde lang lief ich den Feldweg entlang, bis vor mir die Wirtschaftsgebäude einer alten Kolchose auftauchten. Dahinter lag ein winziges Dorf, dessen Hunde kollektiv anschlugen, als sie die Ankunft eines Fremden witterten. Zwei alte Männer unterhielten sich über einen Gartenzaun hinweg. Als ich auf sie zusteuerte, verstummte ihr Gespräch, beide musterten mich mit unverhohlener Neugier. Ich fragte nach dem Steppenpark. Stumm deuteten die Männer auf das hintere Ende der staubigen Dorfstraße.
Besuch aus Deutschland
Das letzte Haus stand am Ufer eines kleinen Flusses. Eine schmale Fußgängerbrücke führte hinüber. Auf der anderen Seite stand ein Mann in einem Tarnanzug.
„Aus Deutschland?“
Ratlos kratzte der Uniformierte sein unrasiertes Kinn. Offenbar war er der Parkwächter.
„Deutschland... Nicht schlecht. Dann hole ich wohl mal besser den Chef.“
Der Chef hieß Alexander Michejew. Er war ein breitschultriger, schnörkelloser Mann um die fünfzig. Mit einem gutgelaunten Schulterklopfen hieß er mich willkommen. Er hatte etwas von einem fröhlichen Bären, aber sein rotgeädertes Cholerikergesicht sagte mir, dass der Bär auch anders konnte.
Michejew war noch nicht lange im Amt.
„Mein Vorgänger – nun, lange Geschichte. Kurz gesagt, er ist nicht mehr da.“
Als ich später nach dem Namen des Vorgängers suchte, stellte ich fest, dass die Separatisten ihn rausgeschmissen hatten. Es war nicht der einzige Verwaltungsposten der Donezker Volksrepublik, der in den letzten anderthalb Jahren neu besetzt worden war.
„Du bist aus Deutschland hierher gekommen, um dir die Steppe anzusehen?“, fragte Michejew.
Ich nickte.
Anerkennend pfiff er durch die Zähne, bevor er mich ins Innere des Geländes führte.
„Tausend Hektar“, sagte er. „Unberührte Steppe. Kein Pflug hat je diese Erde umgewälzt.“
Das Trommeln galoppierender Pferdehufe
Ein kleines Verwaltungsgebäude grenzte an einen Pferdestall. Daneben erhob sich ein flacher Hügel, hinter dessen Kuppe der Steppenpark begann. Wir unterhielten uns noch am Fuß des Hügels, als von ferne her plötzlich das dumpfe Trommeln galoppierender Pferdehufe zu hören war. Der Rhythmus war unverkennbar – tapatam, tapatam, tapatam.
Auch Michejew hatte das Geräusch bemerkt. Schweigend hörten wir zu, wie das Trommeln näher kam, bis auf der Kuppe des Hügels plötzlich die Gestalt eines Reiters auftauchte, der in vollem Galopp auf uns zu sprengte.
Es war ein Bild von solcher Zeitlosigkeit, dass ich für einen Moment vergaß, wo ich war. Ein Kribbeln ging durch meinen Körper, ich spürte eine jahrtausendealte Furcht. Wie schnell ich auch rennen mochte, der Reiter würde mich einholen, wohin ich auch floh, er würde mich finden, im Gras gab es keine Verstecke. So musste sie sich angefühlt haben – die alte Angst der Sesshaften vor den Steppenvölkern.
Unmittelbar vor uns brachte der Reiter sein Pferd abrupt zum Stehen und stieg ab. Das Tier war dunkelbraun und strahlte eine Ruhe aus, die mich überraschte. Seine Nüstern gingen langsam, der harte Ritt war ihm nicht anzumerken. Der Reiter war Mitte zwanzig und wirkte genau so gelassen wie sein Pferd. „Witja“, stellte er sich vor. Er war der Stallmeister des Parks.
Michejew hatte meinen faszinierten Blick bemerkt.
„Schon mal auf einem Pferd gesessen?“, fragte er.
So kam es, dass ich die Steppe nicht zu Fuß betrat, sondern auf dem Rücken eines Pferds namens Sultan. Michejew zog sich ins Verwaltungsgebäude zurück, während Witja zu Fuß neben mir her lief. Anfangs hielt er die Zügel in der Hand, später, als sich das Pferd an mich gewöhnt hatte, übergab er sie mir.
Pappeln statt Grenzanlagen
Auf den ersten Blick gab es nicht viel zu sehen. Sanfte Hügel wellten sich bis zum Horizont, kein Baum, kaum ein Strauch bot dem Blick Halt. Das Steppengras war gelb und strohig, es wirkte leblos, und so würde es bleiben, bis der Frühling anbrach. Von fern betrachtet schien eine einförmige Grasdecke den Boden zu bedecken, erst aus der Nähe offenbarte sie ihre Vielfalt. Einstämmige und knotig verzweigte Stengel bogen sich nebeneinander im Wind, an den Spitzen zitterten verdorrte Blüten, die einen rund, die anderen fedrig, dolden- oder ährenförmig. Nicht eine, sondern Hunderte von Grassorten wuchsen in der Steppe.
Nur am östlichen Rand des Parks, etwa drei, vielleicht vier Kilometer entfernt, sah ich ein paar vereinzelte Bäume stehen, dem Anschein nach Pappeln. Sie bildeten eine Linie. Als ich Witja fragte, ob es die russische Grenze sei, nickte er.
„Gibt es da einen Zaun?“, fragte ich. Aus der Entfernung konnte ich keine Grenzanlagen erkennen.
„Nur einen flachen Graben. Wenn wir die Pferde in der Steppe grasen lassen, verirren sie sich manchmal auf die andere Seite.“
„Was macht ihr dann?“
„Nichts. Sie kommen von selbst zurück. Und den russischen Grenzern sind Pferde egal, solange niemand draufsitzt.“
Hinterlassenschaften der alten Steppenvölker
An ein paar Stellen ragten steinerne Skulpturen aus dem Gras, grob gehauene Figuren, Hinterlassenschaften der alten Steppenvölker. In den ukrainischen Heimatkundemuseen hatte ich inzwischen so viele der alten Grabsteine gesehen, dass ich ihre Formen ansatzweise unterscheiden konnte. Die meisten Statuen im Park schienen aus der Ära der Polowzer zu stammen, sie mussten etwa tausend Jahre alt sein. Ein paar stärker verwitterte Steine sahen nach Grabfiguren der Skythen und Sarmaten aus, die rund ein Jahrtausend vor den Polowzern durch die Steppe gezogen waren.
Witja erklärte mir, dass fast alle Steinskulpturen aus anderen Teilen der Steppengebiete stammten, man hatte sie hier zusammengetragen. Nur eine Statue stand an ihrem ursprünglichen Ort, auf der Kuppe eines Kurgans, eines alten Grabhügels, der sich in der Mitte des Parks erhob. Der Figur fehlte der Kopf, aber die unter dem Bauch verschränkten Arme sagten mir, dass es ein polowzisches Grabmal sein musste.
Auf dem Kurgan drückte Witja mir die Zügel in die Hand. Sultan reagierte sofort auf meinen Schenkeldruck, er verfiel in einen leichten Trab. Sobald wir uns zu weit vom Kurgan entfernten, pfiff Witja das Pferd zurück, und obwohl wir nicht gerade im Heldengalopp durchs Gras sprengten, spürte ich, wie das Blut in meinen Adern schneller floss. Ein grenzensprengendes Glücksgefühl durchflutete meinen Körper, ich war eins mit der Steppe, ich ritt durch die Jahrtausende, ich war ein Skythe, ein Polowzer, ein Kosake. Der Wunsch überkam mich, die Schenkel hart zusammenzupressen und mit dem Pferd loszustürmen, über die russische Grenze hinweg und weiter, bis nach Kasachstan, nach Sibirien, in die Mongolei, so weit die Steppe reichte.
Wahrscheinlich hätte mich nach einer kurzen Glücksminute ein russischer Grenzer vom Pferd geschossen.
„Früher waren irgendwie alle Russen, jetzt sind manche Ukrainer“
Auf dem Rückweg zum Stall erzählte mir Witja, dass er in Samsonowe wohnte, dem Dorf neben dem Park.
„Leben da mehr Russen oder Ukrainer?“, fragte ich.
Er schwieg einen Moment. Die Frage schien ihn zu verwirren.
„Na ja“, sagte er. „Früher, als es die Union noch gab, waren wir irgendwie alle Russen. Jetzt sind manche Ukrainer. Keine Ahnung, wovon es mehr gibt.“
Witja war so jung, dass er die Sowjetzeit kaum bewusst miterlebt haben konnte. Seine Antwort ließ mich an einen Satz von Valentina Mordwinzewa denken, der Archäologin aus Simferopol. Imperien, hatte sie gesagt, verschwinden nicht aus den Köpfen der Menschen, nur weil sie von der Landkarte verschwinden.
Michejew, der Parkdirektor, war noch beschäftigt, als wir das Verwaltungsgebäude erreichten. Eine junge Mitarbeiterin namens Tamara führte mich in der Zwischenzeit durch das kleine Steppenmuseum, das in einem Nebenraum des Gebäudes lag. Ausgestopfte Tiere und getrocknete Gräser füllten die Glasvitrinen.
Eine Liebesgeschichte von Kowyl und Tiptschak
Tamara deutete auf zwei kleine Grasbüschel, die mit Pappkärtchen beschriftet waren. „Kowyl“ stand auf dem einen, „Tiptschak“ auf dem anderen – Federgras und Schafschwingel.
„In der Steppe wachsen diese beiden Gräser oft nebeneinander“, sagte Tamara. „Es gibt eine alte Legende dazu, vielleicht haben Sie davon gehört?“
Ich kannte die Legende aus einem Buch. Sie spielte in den fernen Zeiten des Kiewer Fürstentums, als Krieg zwischen den Slawen und den Steppenvölkern geherrscht hatte. Zwei feindliche Heere schlugen eines Nachts ihre Lager neben einem Berg auf, die Kiewer an einem Hang, die Polowzer an einem anderen. Die Kiewer ließen einen jungen Kämpfer namens Kowyl Wache halten, die Polowzer ein Mädchen namens Tiptschak. In der Nacht begegneten sich die beiden auf dem Berg und verliebten sich ineinander. Bis zum Morgengrauen flüsterten sie sich Liebesschwüre zu, obwohl der eine die Sprache der anderen nicht verstand. Als die verfeindeten Lager am Morgen erwachten und sahen, was geschehen war, entschieden sie, die Liebenden nicht zu trennen. Gemeinsam ließ man sie ziehen. Seit jenen Tagen aber wachsen in der Steppe Federgras und Schafschwingel Seite an Seite.
„Nein“, log ich. „Die Legende kenne ich nicht.“
Ich wollte die Geschichte aus dem Mund meiner Führerin hören.
„Es war so“, sagte Tamara. „Zwei verfeindete Heere lagerten eines Nachts in der Steppe, nicht weit voneinander entfernt. Der Anführer des einen Heers hieß Kowyl, die Anführerin des anderen Tiptschak. In der Nacht verliebten sich die beiden ineinander und ließen ihre Heere im Stich. Als der Verrat am nächsten Morgen bemerkt wurde, tötete man die Liebenden. Wo ihr Blut in die Steppenerde floss, wachsen seit jenen Tagen Federgras und Schafschwingel.“
Im Vogelschutzgebiet
Ich wäre gerne noch länger in der Steppe geblieben, aber Michejew hatte andere Pläne mit mir. Er wollte mir den zweiten Park zeigen, der zu seinem Verwaltungsbereich gehörte, ein Vogelschutzgebiet an der Küste des Asowschen Meers. In seinem alten Lada Niva fuhren wir am Nachmittag Richtung Süden.
Der bleierne Himmel wurde dunkler und dunkler, während die Felder allmählich verblassten. Zusehends verlor die Erde ihren schwarzen Ton, sie wurde braun, dann beige, bis sie kurz vor Nowoasowsk in Sandboden überging, in dem kein Steppengras mehr Halt fand. Regennasses Schilf prägte die Küstenlandschaft, es hatte zu nieseln begonnen.
Gemeinsam mit einem jungen Biologen aus der Parkverwaltung liefen Michejew und ich den Strand entlang. Der eisige Wind trieb uns den Regen ins Gesicht, hier am Meer blies er noch wütender als in der Steppe. Sein Fauchen wetteiferte mit dem Krachen der Brandung, wir mussten schreien, um uns zu verständigen.
Michejew blieb am Fuß eines Aussichtsturms stehen.
„Das ist nichts für einen alten Mann!“, brüllte er. „Rauf mit euch beiden!“
Gehorsam erklommen der Biologe und ich die nassen Metallstufen. Oben blies der Wind mit einer derartigen Gewalt, dass wir uns ans Geländer klammern mussten, um nicht von der Plattform gefegt zu werden. Der Biologe streckte einen Arm aus. Ich erkannte die schmale Landzunge, auf die er zeigte, aber der Wind schluckte die Hälfte seiner gebrüllten Erklärungen.
„… Möwen … Reiher … Kormorane … Brutgebiet …“
Auf der Suche nach einem Investor
Als wir wieder unten angekommen waren, führte Michejew uns zu einem langen, niedrigen Betonbau an der Wasserkante. Es war ein altes sowjetisches Ferienheim, gebaut für Schachtarbeiter aus dem Donbass. Das Gebäude gehörte zu Michejews Park, aber es wurde schon lange nicht mehr genutzt. Die kaputten Fenster und Türen waren mit Metallgittern abgesperrt, dahinter erkannte ich nackte Betonwände und die Überreste zersplitterter Möbel. An der Küstenseite des Gebäudes schlug das braune Wasser des Asowschen Meers krachend gegen eine betonierte Kaimauer. Warum Michejew mich hierher geführt hatte, begriff ich erst, als mir seine Bärenpranke auf den Rücken schlug.
„Mein internationaler Freund!“, schrie er. „Du wirst uns einen Investor finden, der das Häuschen herrichtet!“
Ungläubig starrte ich in sein regentriefendes Gesicht. Der Plan war so hirnrissig, dass mir ein paar Sekunden lang keine Antwort einfiel. Welcher Investor würde sein Geld in einer international nicht anerkannten Bananenrepublik anlegen, in die er nicht einmal einreisen konnte?
„Alexander“, brüllte ich. „Wie soll dein Investor denn bitte hierher kommen?“
„Das kriegen wir hin!“, schrie er grinsend. „Wir graben einen Tunnel für ihn! Unter der russischen Grenze!“
Nur ein paar Gläser Wodka
Wir verbrachten die Nacht in Nowoasowsk. Michejew lebte eigentlich in Donezk, bei seiner Familie, die er nur noch an den Wochenenden sah, seitdem man ihn aus der städtischen Umweltbehörde an die Küste versetzt hatte. Werktags schlief er in einer kleinen Dienstwohnung im Gebäude der Parkverwaltung. Es gab ein zweites Bett, das er mir anbot.
In der winzigen Küche briet Michejew Spiegeleier mit Fleischwurst, dazu türmte er Weißbrot, Salzgurken, marinierte Auberginen, Trockenfisch und Bier auf den Tisch. Ganz zum Schluss zog er eine Literflasche Wodka aus dem Regal.
„Ich hoffe, du hältst ein paar Gläser aus“, knurrte er. „Weiß man ja nicht bei euch komischen Westlern. Ihr wollt ja immer alles ganz korrekt machen.“
Seine Laune hatte sich merklich verschlechtert, seitdem er begriffen hatte, dass ich von seinen Investorenplänen nicht viel hielt.
„Immer wollt ihr uns eure Regeln aufzwingen. Demokratie, Menschenrechte, Freiheit – ich kann die Scheiße nicht mehr hören. Männer ficken Männer, das ist eure ganze Freiheit! Könnt ihr gerne für euch behalten, eure Scheißfreiheit!“
Enttäuscht von Gorbatschow
Es wurde eine seltsame Nacht. Zum Rauchen wechselten wir in regelmäßigen Abständen in Michejews Büro, das auf der anderen Seite des Flurs lag. Zum Trinken gingen wir wieder zurück in die Küche. Über seinem Büroschreibtisch hatte Michejew ein kleines Funktionärsporträt aufgehängt, es zeigte Alexander Sachartschenko, den Premierminister der Separatisten. Sobald wir rauchend unter dem Porträt saßen, fingen wir an zu streiten. Beim Trinken in der Küche vertrugen wir uns wieder. So ging es hin und her, hin und her, bis der Wodka weit nach Mitternacht zur Neige ging.
„Euch Deutschen hat Gorbatschow die Wiedervereinigung geschenkt“, sagte Michejew düster. „Aber wir dürfen uns nicht mit Russland vereinigen, wenn wir es wollen? Erklär mir das!“
Bevor ich irgendetwas erklären konnte, redete er weiter.
„Du glaubst nicht, wie ich Gorbatschow bewundert habe, als er an die Macht kam. Der erste Generalsekretär, der sich traute, frei vor die Arbeiter zu treten! Ohne Redemanuskript, wie ein Mensch. Seinetwegen bin ich in die Scheißpartei eingetreten.“
Michejew zog an seiner Zigarette.
„Aber dann hat er alles versaut, der Hurensohn. Alles! Ich hasse den Kerl. Die halbe Welt gehörte uns, wir hatten ein gutes Leben, aber er musste die Union in Stücke fallen lassen.“
Wütend deutete er in Richtung Fenster.
„Zehn Kilometer von hier verläuft jetzt eine Grenze, die Russen von Russen trennt! Ich hoffe, Gorbatschow ist glücklich, der Scheißkerl!“
Michajews altgläubige Familie
Zwischen den Aktenordnern in Michejews Büroregal stand eine kleine Gottesmutter-Ikone. Was sie ihm bedeutete, begriff ich erst, als Michejew mir in der Küche von seiner Familie erzählte. Sein Vater war ein Altgläubiger gewesen, einer jener traditionsstarren Erzchristen, deren Vorfahren sich im siebzehnten Jahrhundert im Streit von den Orthodoxen getrennt hatten. Der Vater stammte aus einer kleinen Altgläubigengemeinde in Weißrussland. Als junger Mann hatte er es geschafft, sich beim Militärdienst Ärger mit seinen Vorgesetzten einzuhandeln – die Details ließ Michejew offen. Die sowjetischen Behörden legten dem Vater nahe, sein Fehlverhalten durch einen „freiwilligen“ Arbeitseinsatz in den Kohlebergwerken des Donbass wiedergutzumachen, wie es damals vielen empfohlen wurde, die auf die eine oder andere Art mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. So war der altgläubige Vater Schachtarbeiter geworden.
Michejew war in Donezk aufgewachsen. Als Kind, erzählte er, sei er oft mit dem Vater nach Weißrussland gefahren, in das Dorf seiner altgläubigen Vorfahren. Die Kirche hatten die Sowjets inzwischen abreißen lassen, aber es gab noch den alten Friedhof, auf dem die Altgläubigen begraben lagen.
„Eines Tages“, erzählte Michejew, „besuchten wir unser Familiengrab. Ich war noch ganz klein. Ein Onkel beugte sich zu mir herab und sagte: Dein Urgroßvater liegt hier, dein Großvater, alle deine Vorfahren, eines Tages wirst auch du hier liegen. Du glaubst nicht, wie ich geheult habe! Mama, schrie ich, ich will nicht sterben!“
Kurz bevor wir den letzten Wodka leerten, musste ich wieder an den Satz von den Imperien denken, die nicht aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Immer wieder sprach Michejew von „Russen“, die man durch Grenzen geteilt hatte, aber er schien mit dem Wort eher Sowjetbürger zu meinen, denn er selbst war ja gar kein Russe, kein ganzer jedenfalls, sein Vater war Weißrusse.
„Unsinn“, sagte Michejew, als ich nachfragte. „Halbrusse, was soll das sein? Mein Vater war Weißrusse, meine Mutter Ukrainerin. Ich bin Russe!“
Blick ins Bärenherz
Am nächsten Morgen wachte ich ziemlich verkatert auf. Falls es Michejew genau so ging, ließ er es sich nicht anmerken. Es war Freitag, er wollte nach der Mittagspause zurück nach Donezk fahren und bot mir an, mich mitzunehmen. Während ich auf ihn wartete, hörte ich ab und zu seine donnernde Stimme aus dem Büro auf der anderen Seite des Flurs.
„Wo sind diese Scheißpapiere? Alles muss man selber machen! Bring mir die Papiere, du Hurensohn!“
Es tat mir ein bisschen leid, dass seine Kollegen unser Besäufnis ausbaden mussten. Aber auf eine Art mochte ich Michejew. Ohne mich zu kennen, hatte er mich tief in sein Bärenherz blicken lassen. Nicht alles, was ich darin gesehen hatte, hatte mir gefallen, aber ich war ihm dankbar dafür.
Der Text ist ein Auszug aus Jens Mühlings Buch „Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine“, das am 11. März bei Rowohlt erschienen ist.
Jens Mühling
Schwarze Erde
Eine Reise durch die Ukraine
Rowohlt Verlag
288 Seiten
ISBN: 978-3-498-04534-0
19,95 Euro