Volksabstimmung über 1.294 Flüchtlinge
„Ehre den Mutigen!“, lautet die Devise auf der in den Nationalfarben Rot-Weiß-Grün geschmückten Bühne vor dem Historischen Museum in Budapest. Gemeint sind damit jene Helden der bürgerlichen Revolution von 1848, die damals für Demokratie und gegen die autoritäre Habsburger Monarchie kämpften. An deren Opfer erinnert Ungarn jedes Jahr an seinem Nationalfeiertag.
Doch die grandiose Inszenierung und die Rhetorik Viktor Orbans lassen keinen Zweifel daran, dass der nationalkonservative Ministerpräsident in diesem Jahr vor allem sich selbst ehrt. Damals wie heute müsse um die ungarische Selbstbestimmung gekämpft werden, damals wie heute müssten die wahren Patrioten gegen das Diktat der europäischen Großmächte Widerstand leisten, so Orban.
Viktor Orban liebt dieses groß angelegte patriotische Theater mit Pferden, Fahnen und Gedichten. Seit er im Amt ist, wird jeder 15. März zu einem Fest der ungarischen Besonderheit und der antieuropäischen Gesinnung umgedeutet.
Die ungarische Identität sei bedroht
Doch an diesem kalten Tag steht mehr auf dem Spiel. Es gehe jetzt, so Orban, um den Kern der ungarischen Identität, der durch die falsche Migrationspolitik Brüssels schlicht und ergreifend bedroht sei.
Kurz vor dem EU-Gipfel, auf dem Ende dieser Woche die Verteilung der Flüchtlinge erneut Hauptthema sein wird, bietet sich für Orban eine exzellente Gelegenheit, sich als Verteidiger der „nationalen Interessen“ zu profilieren. Und er weiß, dass er in Warschau, Wien oder Paris längst Unterstützer hat.
„Wir werden nicht zulassen, dass unsere Frauen und Töchter von Banden angegriffen werden, oder dass Europa uns einen Maulkorb verpasst“, sagt Orban. Deshalb solle jeder, der sich als Ungar fühle, bei der geplanten Volksabstimmung die Flüchtlingsquoten entschlossen ablehnen.
Diese jüngste, pompös präsentierte Initiative Orbans ist äußerst skurril. Die Ungarn sollen zu einem noch nicht festgelegten Zeitpunkt darüber abstimmen, ob eine bereits im vergangenen September getroffene Entscheidung des Europäischen Rats umgesetzt werden soll. Dieser beschloss damals, 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien innerhalb Europas nach einem Quotensystem zu verteilen.
Diesen deutschen Vorschlag lehnte Budapest damals zwar ab, doch er wurde mit qualifizierter Mehrheit angenommen und ist für alle Mitgliedstaaten verbindlich, auch wenn bislang nur wenige Flüchtlinge tatsächlich verteilt wurden. Ungarn muss demnach nur 1.294 Schutzsuchende aufnehmen.
Die Volksabstimmung gilt als verfassungswidrig
Die meisten unabhängigen ungarischen Kommentatoren und Rechtsexperten betrachten Orbans Initiative als verfassungswidrig. Das ungarische Grundgesetz verbietet Volksabstimmungen über die Umsetzung internationaler Verträge. Darüber muss allerdings letztlich das Verfassungsgericht entscheiden, das seit 2012 ausschließlich aus regierungsnahen Richtern besteht.
Vertreter der linksliberalen Opposition kritisieren die millionenteure Abstimmung als Zeit- und Geldverschwendung, um fremdenfeindliche Ängste zu schüren und von den eigentlichen Problemen des Landes abzulenken.
In der Tat ist die Popularität von Orbans Fidesz-Partei angesichts von Korruptionsskandalen und der kritischen Lage im Bildungs- und Gesundheitssystem gesunken. Zehntausende Lehrer und Studenten wollten am Dienstagnachmittag gegen die chronische Unterfinanzierung an Schulen und Universitäten auf die Straße gehen.
Regierungsvertreter versuchen unterdessen, die Unzufriedenheit herunterzuspielen. Die Ablenkungsstrategie funktionierte bereits, als Orban im vergangenen Herbst die Grenze zu Serbien abriegelte und eine Hasskampagne gegen „kulturfremde Migranten“ startete: Die Umfragewerte seiner Partei waren für einige Monate wieder oben.
Es wäre allerdings verkürzt, Orbans Position nur im innenpolitischen Zusammenhang zu verstehen. Interviews und offizielle Erklärungen deuten darauf hin, dass er mittelfristig eine europaweite „christlich-nationale“ Offensive anstrebt, die einen Gegenpol zur Flüchtlings- und Europapolitik Berlins bilden soll. Eine Niederlage der Befürworter einer solidarischen Lösung auf dem bevorstehenden Gipfel würde Orbans euroskeptischer Agenda einen Schub geben.