Tschechien vor dem EU-Beitritt: Augen zu und durch!
Prag (n-ost). „Nicht schon wieder Europa!“ – die erste Reaktion vieler Menschen, in Tschechien auf das Thema angesprochen werden. Der EU-Überdruss – auch ein Resultat der Dauerberieselung durch die tschechischen Massenmedien. Kurz vor dem EU-Beitritt quollen Fernsehen, Radio und Zeitungen über von Berichten, Interviews und Features zur „Rückkehr der böhmischen Länder nach Europa“. Auch eine Briefmarke mit der Beschriftung „Die Tschechen für Europa“ samt Porträt von Jan Hus sollten Lust auf die EU machen. Außerdem konnte sich der Bürger vielerorts in staatlichen Informationszentren mit bevorstehenden Veränderungen vertraut machen.
Doch einige Reizthemen haben es in sich: Der Beitrittstermin, der 1. Mai 2004, erregt die Gemüter in der tschechischen Bevölkerung. Die von einigen Staaten, wie von Deutschland und Österreich, verhängte mehrjährige Übergangsregelung für den Arbeitsmarkt bringt vielen nicht die erhoffte Bewegungsfreiheit. Dass nun auch Großbritannien nachziehen will, wird in großen Teilen der Bevölkerung als diskriminierend empfunden. „Was ändert sich also nach dem EU-Beitritt faktisch für uns, wenn man uns weiter vor der Tür warten lässt?“ - diese Frage stellen sich wie die 21jährige Soziologiestudentin Ivona Bílá viele Tschechen und fühlen als unwillkommene EU-Bürger zweiter Klasse abqualifiziert: „Die im Westen nehmen uns sowieso nicht für voll!“ Genauso oft ärgern sich Heimkehrer über das rückständige Bild, das man im Westen von Tschechien hat. „Als ich als Au-pair in Deutschland gearbeitet habe, hat man mich gefragt, ob wir hier in Tschechien Fernseher haben und ob wir wissen, was Internet ist!“ beschwert sich die 24jährige Pavlína Neumanová aus Olomouc. Sicher gibt es auch andere, wie die Studentin Klára Drápalová, 22, die die Sache lockerer sehen: „Die Schlauen finden immer einen Weg nach drüben“, meint sie verschmitzt.
Diese Situation nährt einen weit verbreiteten Minderwertigkeitskomplex gegenüber den „Alteuropäern“. Der jüngste Skandal um den Rücktritt des bereits zum tschechischen EU-Kommissar designierten Sozialdemokraten Miloš Kužvart wegen zwischenparteilicher Rivalitäten in der tschechischen Regierungskoalition, die durch den konservativen Außenminister Svoboda ausgelöst wurden, wurde im Lande ebenfalls als internationale Blamage gewertet. Man sah sich wieder mit der Frage konfrontiert: Sind wir Tschechen überhaupt reif für den EU-Beitritt, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, einmütig einen Vertreter nach Europa zu schicken? Der Komplex manifestiert sich auch in der Sprache der Medien, in der oft Phrasen wie „Im Vergleich mit den fortschrittlichen Ländern haben wir...“ oder „Tschechien ist ja nur ein kleines Land“ zu lesen sind.
Auch nicht gerade als Ansporn mag die Haltung des Staatspräsidenten Václav Klaus gegenüber dem EU-Beitritt wirken, der sich vor den Beitrittsverhandlungen stets als Populist und klarer Europakritiker geoutet hatte. Nun, da seine Regierung die EU-Beitrittsbedingungen ausgehandelt hat, mäßigt er zwar seine scharfen Töne, erklärte allerdings jüngst gegenüber der Tageszeitung „Lidové noviny“, warum er kein „Europäist“ sei, und bezeichnete den „Europäismus“ unter anderem als Ersatz für linksgerichtete Ideologien in der Nachfolge des traditionellen Kollektivismus und Sozialismus. Die gescheiterte EU-Verfassung hatte er zuvor als „radikalen Schritt zur Schaffung eines europäischen Superstaates“ bezeichnet und meinte: „Es wächst die Zahl derer, die anfangen, sich dieser Gefahr bewusst zu werden.“ Trifft er damit die Seele des Volkes? „Natürlich fürchten sich viele davor, die einstige Kontrolle durch Moskau könnte durch ein aus Brüssel ersetzt werden“, so der Politikwissenschaftler Zdenĕk Zborils.
Unpopuläre politische Entscheidungen werden von tschechischen Politikern gerne den EU-Polittechnokraten zugeschoben, um sich selbst die Hände in Unschuld zu waschen – und der Normalbürger ist wegen der Unübersichtlichkeit des politischen Paragraphengewirrs ohnehin kaum in der Lage, diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Die verbreiteten Ängste vor einem Preisanstieg oder der Mehrwertssteuer und steigender Arbeitslosigkeit (sie liegt derzeit bei rund 10 %) verstärken sich derzeit also eher in der Bevölkerung. Versuche der Protektion einheimischer Märkte, wie etwa die weitgehende Abschottung des heimischen Immobilienmarktes, soll den Ausverkauf Tschechiens verhindern.
Obwohl innerhalb der nächsten zwei Jahre etwa 2,3 Milliarden Euro vor allem in die strukturschwachen Regionen Tschechiens fließen werden, bestätigen jüngste Meinungsumfragen, dass die Hälfte der Tschechen meint, der einheimischen Wirtschaft stünden nun erhebliche Probleme ins Haus. Mehr als zwei Drittel befürchten sogar, die Republik werde einen Teil ihrer staatlichen Souveränität einbüßen. Mit solchen Ängsten stehen die Tschechen nicht alleine da: Wie die meisten Bürger der neuen Beitrittsstaaten können auch die Tschechen nur auf wenige Jahrzehnte staatlicher Eigenständigkeit zurückblicken: Seit 1525 standen sie zwischen habsburgischem Zepter, deutscher Okkupation oder sowjetischer Gängelung. Nur ganze 36 Jahre stand das Land nicht unter der Herrschaft fremder Mächte.
Das Ergebnis des Referendums zum EU-Beitritt wies den Tschechen zwar mit 77,5 % Ja-Stimmen einen Platz im Mittelfeld der zehn Beitrittskandidaten zu, es kaschiert jedoch, dass bei einer Wahlbeteiligung von insgesamt nur 55 % auch weite Teile der Bevölkerung dem EU-Beitritt gleichgültig gegenüber standen. Nur in Ungarn sah die Statistik noch schlechter aus.
So will an Moldau und March einfach keine rechte Europa-Begeisterung aufkommen. So zieht man den Kopf ein und folgt dem alten Rezept „Kopf einziehen, Augen zu und durch!“ Ende