Lettland

Auf den Barrikaden

Morgens um neun beginnen auf dem Zentralmarkt von Riga die Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm: Wie haben Sie vor 25 Jahren die Barrikaden in der lettischen Hauptstadt erlebt?, wollen die Filmemacher von den Bürgern wissen. Während die Verkäufer an ihren Ständen Gemüse und Früchte drapieren, kämmt sich der 55-jährige Janis Dumpis noch einmal die Haare, bevor er seine Geschichte in die Kamera erzählt. 

Dumpis hatte gerade seine Nachtschicht im Krankenhaus beendet, als er in der Nacht vom 13. Januar 1991 einem Aufruf im Radio folgte: Der Leiter der lettischen Volksfront Dainis Ivans bat alle Bürger zum Domplatz zu kommen, um Parlament und Rundfunkgebäude vor den anrückenden sowjetischen Panzern zu schützen. „Als ich dort eintraf, saßen bereits Tausende an Lagerfeuern und bauten Barrikaden“, erinnert sich Dumpis. „Wir haben gesungen und waren zusammen. Und wir haben bewiesen, dass wir gemeinsam ein totalitäres Regime bekämpfen können.“

Auf dem Weg in die Freiheit hatten sich die ehemaligen Sowjetrepubliken Lettland, Litauen und Estland im Jahr 1990 von Moskau unabhängig erklärt. Aber der Kreml wollte sie nicht ziehen lassen. Am 13. Januar 1991 umzingelten sowjetische Panzer den Fernsehturm in der litauischen Hauptstadt Vilnius. „Bei dem Versuch, das Gebäude zu schützen, wurden 14 Litauer von den sowjetischen Militärs erschossen oder von Panzern überrollt, mehr als 1.000 weitere wurden verletzt“, sagt der ehemalige Volksfront-Chef Dainis Ivans. Er informierte die lettischen Bürger nach einem Telefonat mit seinen Kollegen in Litauen. 


Furchtbar unter Druck

Er sei furchtbar unter Druck gewesen, sagt Ivans. „Wir wollten unseren Freiheitskampf nicht aufgeben, aber Blutvergießen wie in Litauen verhindern.“ Deshalb hatten die Abgeordneten die Idee, alle wichtigen Ministerien und Brücken ins Zentrum von Riga mit Barrikaden vor den sowjetischen Panzern zu schützen. „Trotzdem haben wir fünf Menschen im Kampf um unsere Freiheit verloren. Ansonsten verlief alles friedlich“, so Ivans. „Das dürfen wir auch 25 Jahre später nicht vergessen.“

Mehr als 150 Zeitzeugen kommen in diesen Tagen zum Video-Interview: Auf den Zentralmarkt von Riga, in die lettische Universität, in die Bibliothek, aber auch in andere Städte des Landes. Darunter sind ehemalige Lehrer, Kolchosarbeiter oder Telefonistinnen. Sie werden von Studenten wie Matiss Ruks befragt. Ruks hat sich sofort freiwillig für die Mitarbeit an dem Dokumentarfilm gemeldet – denn bisher hatte der 20-jährige keine Vorstellung davon, wie das Leben in der ehemaligen Sowjetrepublik Lettland gewesen ist. 

Alle Leute bekämen während des Interviews glühende Augen, wenn sie von der großen Kraft sprechen, die sie auf den Barrikaden gespürt haben, sagt Ruks: „Ich habe zum ersten Mal verstanden, weshalb diese Menschen soviel Angst vor Russland haben und gelernt, dass unsere Freiheit nicht selbstverständlich ist.“

Über Rundfunk und Internet wurden Zeitzeugen aufgerufen, ihre Barrikadengeschichten zu erzählen. Daraus entsteht eine Sammlung von Interviews, die später im Fernsehen, in Schulen und Museen gezeigt werden soll. Die Idee dazu hatte die Lettische Staatskanzlei. Damit wolle man auch auf das neue Machtgebaren des russischen Nachbarn reagieren, erklärt die Sprecherin Zane Ozola. Das größte Gut der Letten sei es, eine Besatzung abgeschüttelt zu haben und frei zu sein. „Und wir werden unsere Freiheit verteidigen, egal wer uns jemals angreifen sollte.“


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