Unruhen in Europas jüngstem Staat
Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei, Tränengasattacken im Parlament, Anti-Terror-Einsätze gegen Oppositionsparteien – schon seit Monaten macht Kosovo mit solchen Nachrichten Schlagzeilen. Auch am Wochenende kam es in Prishtina, der Hauptstadt des jüngsten europäischen Staates, wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen: Im Anschluß an eine Protestkundgebung der Opposition gegen die Regierung attackierten Demonstranten Polizeieinheiten und warfen Brandsätze auf das Regierungsgebäude in Prishtina. Stundenlang zogen sich die Straßenschlachten hin, zahlreiche Polizisten und Demonstranten wurden verletzt – es waren die schwersten Ausschreitungen seit Monaten.
Anlass für die immer wieder aufflammende Gewalt sind vordergründig zwei Abkommen: Eines über den Verlauf der Grenze zu Montenegro und eines, das der serbischen Minderheit Kosovos mehr Rechte sichern soll. Vor allem letzteres ist im Land umstritten.
Feldzug gegen Autonomieabkommen
Auf Druck der EU hatten sich Serbien und Kosovo im Grundsatz bereits im April 2013 über ein derartiges Abkommen geeinigt. Im August vergangenen Jahres beschlossen die Regierungen der beiden Länder erste Einzelheiten. Demzufolge sollen sich die mehrheitlich von Serben bewohnten Gemeinden Kosovos zu einer Gemeinschaft mit juristischem Statut zusammenschließen können, der so genannten ZSO, die weitreichende Befugnisse hätte, ähnlich dem Südtiroler Autonomiemodell.
Gegen das Rahmenabkommen über die ZSO vom August 2014 ziehen kosovarische Oppositionsparteien seither massiv zu Felde. Parlamentssitzungen zu dem Thema legen sie seit Monaten mit Tränengasattacken und mit Gewalt immer wieder lahm. Zwischenzeitlich verhafteten die Behörden deshalb 13 oppositionelle Parlamentsabgeordnete und stellten sie unter Hausarrest.
Die Oppositionsparteien haben nach eigenen Angaben auch 200.000 Unterschriften gegen das Abkommen gesammelt, was immerhin den Stimmen von mehr als einem Zehntel der Bevölkerung entspräche. Tatsächlich sind viele Kosovo-Albaner grundsätzlich gegen weitreichende Rechte für die serbische Minderheit. Viele sehen in dem Abkommen aber auch ein Symbol für die undemokratische Art und Weise, in der Kosovo regiert wird und mit der die EU im Land agiert. „Es gab keinerlei Transparenz bei den Verhandlungen, sie wurden unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit geführt“, kritisiert Luan Shllaku, der Direktor der Kosovo Foundation for Open Society.
Machtkampf zwischen Regierung und Opposition
Doch bei den Protesten der Opposition geht es nicht nur um die serbische Gemeindevereinigung. Im Hintergrund steht nach Ansicht vieler kosovarischer Beobachter auch ein Machtkampf zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Nach vorgezogenen Wahlen regiert seit November 2014 im Land eine Koalition der beiden größten Parlamentsparteien, der „Demokratischen Partei des Kosovo“ (PDK) und der „Demokratischen Liga des Kosovo“ (LDK). Die Regierung kam nach monatelangem politischem Stillstand auf Druck der USA und der EU zustande. Zwei Parteien, die AAK (Allianz für die Zukunft Kosovos) und Nisma (Initiative), deren Führer zuvor jahrelang in verschiedenen Schlüsselpositionen mitregiert hatten, blieben bei dem Koalitionsdeal außen vor. Sie führen heute einen Teil der Opposition an.
Stärkste Oppositionskraft ist jedoch die Partei Vetevendosje (Selbstbestimmung), gegründet vom einstigen Bürgerrechtler und Studentenführer Albin Kurti, der vor allem unter jungen Kosovaren großes Ansehen genießt. Vetevendosje bezieht einerseits radikal nationalistische Positionen, anderseits prangert sie immer wieder Korruption, Vetternwirtschaft und organisiertes Verbrechen im Land an, in welche die politische Elite verstrickt ist.
Das kommt bei vielen aus gutem Grund an: Kosovo ist das ärmste Land Europas, es lebt im Wesentlichen von internationaler Finanzhilfe, die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Prozent. Um einen akzeptablen Job zu bekommen, muss man mit irgendeinem der herrschenden Polit-Clans verbandelt sein. Vor allem die Perspektivlosigkeit vieler Kosovaren führte vor einem Jahr zum Massenexodus aus dem Land.
Viele Beobachter im Land mahnen angesichts dieser Situation radikale Reformen an, sind zugleich aber pessimistisch. „Unsere Staatsbildung krankt an schwachen Institutionen, Korruption und mangelnder Rechtsstaatlichkeit“, sagt Naim Rashiti, Politikanalyst von der kosovarischen „Balkans Policy Research Group“. „Sie bedürfte einer verantwortlichen politischen Klasse, aber die haben wir nicht.“
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Quellen:
- Berichterstattung in kosovarischen und serbischen Medien
- eigene Gespräche mit kosovarischen Politologen und Publizisten
- Rahmenabkommen zur ZSO (Gemeinschaft der serbischen Gemeinden) zwischen Kosovo und Serbien: http://eeas.europa.eu/statements-eeas/docs/150825_02_association-community-of-serb-majority-municipalities-in-kosovo-general-principles-main-elements_en.pdf
- Urteil des kosovarischen Verfassungsgerichtes zum ZSO-Rahmenabkommen vom 23.12.2015: http://www.gjk-ks.org/repository/docs/gjk_ko_130_15_ang.pdf
ENDE
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