Litauen - Die Vergangenheit hinter sich lassen
Vilnius (n-ost). Vilnius baut sich eine Downtown. Bisher war die litauische Hauptstadt für ihre wunderschöne, mittlerweile wieder heraus geputzte barocke Altstadt bekannt, die größte im östlichen Mitteleuropa. Doch nun hat die Zukunft begonnen. „In Anbetracht des Tempos der Veränderungen der letzten Jahre, kann ich sagen, dass Vilnius in nicht ferner Zukunft die modernste Stadt in Ostmitteleuropa sein wird“, erklärt Bürgermeister Arturas Zuokas sichtlich stolz.
Es war seine Idee, auf dem bislang vernachlässigten rechten Flussufer der Neris das neue Rathaus zu bauen. „Wir zahlen nicht einen Litas für den Neubau. Alles Geld kommt aus dem Verkauf der bisherigen Gebäude in der Altstadt – es sind über 20 verschiedene Gebäude und Räumlichkeiten“, lautet die Strategie des jungen, dynamischen Bürgermeisters, der seit einem halben Jahr auch die Liberale Partei Litauens leitet.
Das neue Rathaus mitgezählt ist Vilnius innerhalb von nur 18 Monaten bei dreieinhalb Türmen plus zwei glitzernden Einkaufszentren angelangt. Die Bewohner frönen dem Konsum. Nach über zwölf Jahren Marktwirtschaft können sich zunehmend mehr Bürger Markenkleidung von Benetton, Boss und Escada und Parfums von Shiseido und Chanel leisten.
Für 2004 sagen die Immobilienmakler einen Zuwachs von 50 Prozent an modernen Büroflächen voraus. Überall in der Stadt schießen im Wochentakt neue Geschäfte, Restaurants und Clubs aus dem Boden. Branchen, die die Inlandsnachfrage bedienen, wie Einzelhandel, Gastronomie oder Bauwirtschaft haben im letzten Jahr Zuwachsraten von über 15 Prozent verzeichnet. Das Gesamtwachstum der Wirtschaft lag 2003 bei 8,9 Prozent – Europarekord.
Kein Wunder – Vilnius hat auf dem Weg zu einer ganz normalen europäischen Großstadt noch viel aufzuholen. Gleich hinter der neuen Downtown fängt das andere, das alte Vilnius an. Mitten in der Stadt drängen sich windschiefe Holzhäuser, die Bewohner holen ihr Wasser an Schwengelpumpen, hier und da stehen noch erbärmlich stinkende öffentliche Plumpsklos. „Langfristig wird das hier das wichtigste Wirtschafts- und Konferenzzentrum des ganzen Baltikums“, räumt Bürgermeister Zuokas die Vergangenheit mit großer Geste auf.
Ein Anfang wird am zentralen Markt der Stadt gemacht werden, der in Sichtweite der Bürotürme liegt. Er muss an die EU-Hygiene-Richtlinien angepasst werden. Noch lassen die alte Mütterchen den Besucher von ihren hausgemachten Konserven probieren, in dem sie die Gläser einfach aufdrehen. Unter freiem Himmel stehen sie hier bei sengender Hitze ebenso wie bei klirrendem Frost. Die morgendliche Fahrt in alten knattrigen Omnibussen aus dem Vilniusser Umland in die Stadt kostet umgerechnet 75 Euro-Cent.
Das alles teurer wird ist eine der größten Sorgen vor dem EU-Beitritt: „Ich war in Belgien“, erzählt Computertechniker Vladimiras Mackevic, „dort sind die Preise wie hier, nur in Euro.“ Also das Dreieinhalbfache. „Wenn die Unterhaltskosten weiter steigen, dann wird es schwierig, vor allem für die Rentner.“ Seine 82-jährige Mutter sitzt neben ihm auf dem Sofa. Es gibt Kaffee und Kuchen bei den Mackevics in Trakai. Der Ort ist das ersten Ausflugsziel der Hauptstadtbewohner und ausländischen Touristen, 30 Kilometer vor Vilnius. Die alte Wasserburg wurde schon in der sowjetischen Zeit wieder aufgebaut und thront über einer malerischen Seenlandschaft.
Familie Mackevic gehört zur kleinen Minderheit der Karaiten, einem türkischen Volk, ins Land geholt vor knapp 600 Jahren als Leibwache des Großfürsten. Sechzig von ihnen leben heute noch in Trakai, der alten Hauptstadt, und Lidija ist eine der wenigen, die noch fließend karaitisch spricht. Genauso fließend spricht sie Polnisch – die Region Vilnius war vor dem 2. Weltkrieg polnisch – aber auch Russisch und Litauisch.
Sie hat in ihrem Leben so viele neue Herren gesehen, sie hat ihren Frieden geschlossen. Mit 550 Litas (etwa 160 Euro) bezieht sie eine überdurchschnittliche Rente. „Ich habe 40 Jahre als Buchhalterin gearbeitet, 50 Litas sind die Zusatzrente meines verstorbenen Ehemannes für seinen Kriegseinsatz.“ Sie ist froh, dass sie nicht für die kommunale Heizung zahlen muss, die im Winter schon allein die Rente der alten Menschen auffrisst. „Ich kann mit Holz heizen und sie sehen ja, wie schön warm es hier ist.“ So kommt sie mit 300 Litas Heizkosten über den Winter.
Sie hat für den EU-Beitritt gestimmt: „Hoffen wir, dass alles gut wird. Wenigstens die Kinder und Enkel können jetzt frei reisen, im Ausland studieren.“ Und sie? Nein, sie war noch einmal in Polen, bei ihrer Schwester, aber eine alte Frau wie sie, nein, „ich kann mir jetzt alles im Fernsehen anschauen.“ Und dann erzählt sie, wie schwierig das war, in der sowjetischen Zeit, wenn man nur einmal nach Polen wollte.
Eine alte Frau, die den ursprünglichen Gedanken der Europäischen Union irgend wie erkannt hat. Der große Rest des Landes hat bei der Abstimmung vor allem deshalb zu über 90 Prozent mit „Ja“ gestimmt, weil sie sich von der EU einen höheren Lebensstandard erhoffen. Ebenso wie sie den derzeitigen Präsidenten Rolandas Paksas gewählt haben, der ihnen große Versprechungen gemacht hat und den die Eliten der Hauptstadt nun mit einem Amtsenthebungsverfahren wieder los werden wollen.
Was die Folgen des EU-Beitritts betreffe, meint Vladimiras Mackevic, sei die Unwissenheit riesig. Vor allem auf dem Land: Während sich die Städte bereits auf den Weg in den Westen gemacht haben, ist in den Dörfern die Zeit stehen geblieben. Das ist idyllisch für alle durchreisenden Touristen, die Sandwege ohne Kanalisation und Storchennester auf Hausdächern nur aus den Büchern kennen. Andererseits bedeutet es noch viel Arbeit für die EU und ihre Alt-Mitglieder, wenn Litauen ein gleich berechtigter Teil Europas werden soll.
Roland Stork
ENDE