Illusionen eines Ungarn
„Eines Tages werden sie mich vielleicht schätzen.“ Dieser Satz arbeitete stets in mir. Seit meiner Kindheit habe ich davon geträumt, es ist schon fast ein Teil meiner Seele geworden, dass eines Tages irgendjemand aus mir werden soll. Weil ich mir nie sicher war, ob ich ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft bin wie der Rest. In der Schule in Sagujfalu, meinem Heimatdorf an der slowakischen Grenze, stiegen die Erwartungen meiner Lehrer, sobald ich mehr wusste als die anderen. Sie wollten immer mehr von mir, damit ich gleichwertig werde.
Ich bin Journalist und Zigeuner. Zigeuner ist für mich kein Schimpfwort, ich kann mich selbstbewusst so nennen. Auf sprachlicher Ebene sind viele Menschen politisch korrekt und sprechen stattdessen von „den Roma“, weil der Begriff nicht so belastet ist. Doch im Alltag begegnet mir ein Vorurteil nach dem anderen. Wenn der Begriff Roma ohne Respekt verwendet wird, ist er nichts wert.
Ich arbeite bei den namhaftesten ungarischen Blättern und bekomme nicht selten den Stempel des „zigeunerischen Schreibers“ aufgedrückt – oder vielmehr des „Zigeunerjournalisten“. Ich weiß nicht, was Letzteres eigentlich bedeuten soll, es ergibt für mich keinen Sinn. Doch es ist in Ungarn gängig, die ethnische Herkunft mit der beruflichen Qualifikation zu vermischen – es wird sogar häufig angenommen, dass berufliches Können mit der ethnischen Herkunft in Zusammenhang steht und nicht etwa mit der Persönlichkeit, der Erziehung, dem familiären Umfeld oder der Qualität der Bildung.
Begabte Ausnahme
So gibt es heute in Ungarn Zigeunerjournalisten, Zigeunerdichter, Zigeunerpriester und Zigeunerkünstler. Dabei hat, wie ein Freund von mir treffend formulierte, niemand von uns an der Universität ein Zigeunerkünstler- oder Zigeunervolkswirtdiplom bekommen. Solche Bezeichnungen positionieren uns als begabte Ausnahmen unter Zigeunern, die in einem „echten“ Wettbewerb keine Chance hätten.
Vor allem die künstlerischen, mehrsprachigen Roma werden als Außerirdische betrachtet. Und all das wird so bleiben, solange sich manche von uns weiterhin als „schlaue und begabte“ Zigeuner verstehen. Veränderung kann es nur geben, wenn wir anfangen, statt eines Zigeuners einen talentierten und klugen Staatsbürger zu sehen, wenn wir in den Spiegel schauen.
In Budapester Künstlerkreisen ist das ein wiederkehrendes Thema, an dem sich viele abarbeiten. So zeigte im vergangenen Jahr das junge Künstlerkollektiv Sostar in der Freien Kunstschule in Budapest eine Ausstellung mit dem Titel „Vertrag der ethnischen Zugehörigkeit“. Eindrucksvoll vermittelte Henrik Kallai in seiner Videoinstallation „Dieser kleine Zigeuner“, wie die Mehrheitsgesellschaft Mauern errichtet, die schwer zu durchbrechen sind.
Die Top Zehn der Abgelehnten
Die Menschen geraten in Verlegenheit, wenn sie einen Zigeuner ansprechen müssen. Nicht unbedingt, weil sie denjenigen, mit dem sie reden, persönlich nicht schätzen – sondern weil ethnische Minderheiten immer noch nicht geleichberechtigt werden. Mir sollten die gleichen Rechte, Pflichten und Möglichkeiten zugesprochen werden wie der Mehrheit der Gesellschaft. Ethnische Zugehörigkeit sollte eine Privatsache sein.
Doch die Realität sieht anders aus: Es ist mir schon einige Male passiert, dass ich eine Wohnung mieten wollte, doch nachdem der Vermieter mein Gesicht gesehen hat, war sie plötzlich besetzt. In diversen Budapester Veranstaltungsorten werde ich aufgrund meines Aussehens regelmäßig an der Tür abgewiesen.
Das ungarische Meinungsforschungsinstitut Tarki stellt in einer aktuellen Umfrage einen „Rekord der Fremdenfeindlichkeit in Ungarn“ fest. Danach sind die pauschalen Aversionen gegen Asylsuchende so hoch wie nie. Laut Tarki finden 46 Prozent der Befragten, dass Ungarn weder Flüchtlinge ins Land lassen, noch Asylverfahren ermöglichen sollte. Gerade mal neun Prozent bekennen sich klar zum Recht auf Asyl für verfolgte Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen.
Aber auch mit den Landsleuten ist man nicht im Reinen. Interessant sind in dem Zusammenhang die ebenfalls von Tarki erhobenen „Aversions-Top Ten“ – die zehn am heftigsten abgelehnten Gruppen. Traditionell wird diese Liste von „den Arabern“ angeführt. 94 Prozent der Befragten wollen sie am wenigsten im Land haben. Auf Platz zwei – und das ist ein Spezifikum – liegen die Roma. Menschen mit einem ungarischen Pass. Damit deklarieren die Befragten sieben Prozent der eigenen Bevölkerung zu ungewollten Ausländern.
Ungarn und Europäer
Ich bin ungarischer Staatsbürger, Ungarn ist mein Zuhause, Europa meine Heimat, ich bin hier geboren, ich kenne und liebe diese Kultur. Gerade deshalb finde ich die Haltung des Premierministers Viktor Orbans besonders beschämend. In einer Rede zur Einwanderungssituation, die Orban Anfang September im Außenministerium hielt, kam er auch auf die Minderheit der Roma zu sprechen. Die Ungarn hätten sie geerbt. Und nun müsse man mit ihr zusammenleben, bedauerte der Premier.
Orban und seine Partei Fidesz veranstalteten in den vergangenen Monaten eine regelrechte Hasskampagne gegen Flüchtlinge. Aussagen wie die eben zitierte geben eine Vorahnung darauf, was das nächste Zielobjekt der Fidesz-Kampagne sein wird: das ungarische Zigeunertum.
Wie kann man also von seinen Landsleuten erwarten, dass sie uns Zigeuner als gleichberichtige Bürger betrachten, wenn selbst der Ministerpräsident es nicht tut? Die Gleichberechtigung bleibt vorerst lediglich eine Illusion. Obwohl wir nicht nur eine ethnische Minderheit sind – sondern Staatsbürger. Ungarn. Europäer.