Estland - EU-Reife mit Schwachstellen
Tartu (n-ost) - „Der Frühling hat Estland erreicht – wir sind zurück in Europa“. So euphorisch begrüßte im letzten September der estnische Ministerpräsident, Juhan Parts, das erfolgreiche Referendum zur Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Union (EU). Mitte Januar ratifizierte das Parlament (Riigikogu) in der Hauptstadt Tallinn den Beitrittsvertrag. Und längst hat der wirtschaftliche Frühling das Land erreicht: Jährliche Wachstumsraten des Sozialprodukts von fünf Prozent zeigen dies. Ökonomen loben die Finanzpolitik. Die Esten zahlen weniger als ein Viertel ihres Einkommens an den Fiskus. Firmen gar nichts. Das lockt Investoren, vor allem aus Finnland und Schweden. Auch in Sachen Modernität ist das Land beispielhaft: Es hat die höchste Handy-Dichte der Beitrittsländer, alle Schulen sind mit dem Internet verbunden und mit einem neuen elektronischen Personalausweis hat das Zeitalter des Urnengangs am Computer begonnen. Bildung wird in Estland groß geschrieben. Über 7 Prozent investiert der Staat dafür und liegt weit über dem empfohlenen EU-Richtwert von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Estland ist fit für die EU, so das Lob der Europäischen Kommission.
Jüri Sepp, Ökonom an der Universität Tartu, ist weniger zuversichtlich. „Unsere Besteuerung und unser Lohnniveau sind Wettbewerbsvorteile“, meint der Wissenschaftler. Doch die hohen Sozialabgaben würden diese Vorzüge wieder relativieren und die geplante Reduzierung der Einkommenssteuer auf 20 Prozent bringe sogar die Ausgaben für die Bildung und Forschung in Gefahr. Ohnehin liege Estland seiner wirtschaftlichen Leistung nur bei 42 Prozent des EU-Durchschnitts, zählt der Professor die Defizite auf.
Der Gewerkschaftler, Kalle Kalda, kennt die sozialen Schwachstellen. Die Regierung habe die Harmonisierung mit dem EU-Recht zum Anlass genommen, um unsoziale Maßnahmen durchzuboxen. „Manches hat sie einfach ignoriert“, empört sich der Este. So sei das Arbeitsrecht noch nicht auf EU-Niveau. Ein emotionelles Unbehagen bei den älteren Leuten gegenüber der EU bleibe bestehen, schon aus der Erinnerung an die sowjetische Okkupation, warnt er.
Wie nahe Russland ist, zeigt die russische Minderheit. 350 000 Russen leben vor allem im Nordosten des Landes, in und um die Industriestädte Narva und Kohtla-Järve. Mit der estnischen Unabhängigkeit 1992 bekamen sie den Status von Staatenlosen. Sie erhielten einen „grauen“ Pass, der einen unbefristeten Aufenthalt in Estland garantiert, aber nur das aktive Kommunalwahlrecht gewährt. Die estnische Regierung ist um die sprachliche, rechtliche und soziale Integration der Minderheit bemüht. Doch die Europäische Kommission mahnt eine schnellere Einbürgerung der Russen an.
Besonders Angehörige der russischen Minderheit hoffen auf Hilfe aus Brüssel. Für seine Heimatstadt Narva, in der 95 Prozent Russen wohnen, sieht der Redakteur der Narvaskaja Gazeta, Sergei Stepanow, nur eine geringe Zahl von EU-Gegnern. „Die überwiegende Masse unserer Bevölkerung wartet auf die Mitgliedschaft. Alle hoffen auf eine gute Entwicklung als europäische Grenzstadt. Vor allem die Jungen wollen die Chancen wahrnehmen“, meint der Journalist. Schon jetzt würden sich russische Unternehmen in der Region Ida-Virumaa ansiedeln. Obwohl Stepanow beim Referendum nicht abstimmen konnte, weil er als Russe kein Wahlrecht hat, glaubt er, dass in Zukunft durch den Strukturfond der EU mehr Geld in seine Region fließe. Und somit verkörpert der junge Familievater den EU-Optimismus, denn vor allem die jungen, gut ausgebildeten Menschen in Estland haben, egal, ob sie Esten oder Russen sind.
´Wilhelm Siemers
Ende