Ungarn

Europa? Ohne uns

Anfang September hielt der rechtsnationale ungarische Regierungschef Viktor Orban eine wenig beachtete und doch sehr programmatische Rede. Beim jährlichen „Bürgerpicknick“ im Dorf Kötcse nahe des Plattensees, wo Orban öfter Wegweisendes verkündet, sagte er vor Parteigenossen und politischen Freunden, in Europa gehe das „Zeitalter des liberalen Blablas“ zu Ende. Die Flüchtlingskrise biete die große Chance, der national-christlichen Werteordnung auf dem Kontinent wieder zur Dominanz zu verhelfen. Europa müsse seine Grenzen schließen, Einwanderung stoppen und seine ethnisch-kulturelle Zusammensetzung schützen.

Nachdem Orban sein Heimatland Ungarn umgekrempelt hat, sieht er auch die Neugestaltung Europas als seine Mission an. In Kötcse erhob er sie erstmals zum „langfristigen Programm“. Dass Orban es ernst meint, machte er Ende letzter Woche deutlich: Am vergangenen Freitag forderte er in seinem wöchentlichen Radiointerview eine grundlegende Reform der EU und eine Neuverhandlung des EU-Grundlagenvertrages, einige Stunden später wiederholte er dasselbe auf einer Pressekonferenz. Neben einer Abschottung der Außengrenzen, so Orban, ohne die Europa nicht überleben werde, müssten vor allem die Rechte der Nationalstaaten in der EU gestärkt werden.


Pressekonferenzen künftig ohne Europaflagge

Bis vor kurzem hatte der ungarische Regierungschef in Ost- und Westeuropa fast nur heimliche Bewunderer. Doch das hat sich mit Beginn der Flüchtlingskrise und seit den Pariser Anschlägen geändert – vor allem in Osteuropa. Zwar erhob noch kein anderer osteuropäischer Regierungs- oder Staatschef Forderungen wie Orban. Doch die Führungen der meisten osteuropäischen EU-Länder geben sich in bisher nicht dagewesenem Maße EU-kritisch und -skeptisch.

Konsens herrscht vor allem in der Ablehnung der EU-Flüchtlingspolitik und der vorgeschlagenen Quoten. In Polen bekräftigte das am Dienstag die neue rechtskonservative Regierungschefin Beata Szydlo. Polen habe nach den Anschlägen von Paris seine Meinung geändert und werde nicht so viele Flüchtlinge aufnehmen wie vorgeschlagen, so Szydlo. Sie ordnete nebenbei Symbolisches an: Regierungspressekonferenzen finden künftig ohne Europa-Flagge statt.

In Tschechien wettert Staatspräsident Milos Zeman seit längerem gegen Flüchtlinge, Muslime und die EU – bei einem Auftritt auf einer islamkritischen Demonstration vergangene Woche wies er EU-Kritik an der tschechischen Haltung zur Flüchtlingskrise als „moderne Gehirnwäsche“ zurück und verbat sich, dass „dem tschechischen Volk von außen diktiert“ werde, was es zu tun habe. Auch die führenden Politiker der Mitte-Links-Koalition, darunter der sozialdemokratische Regierungschef Bohuslav Sobotka, werfen der EU vor, sie versage beim Schutz der Grenzen.


Grundrechte außer Kraft

Im Nachbarland Slowakei fährt der linksnational-populistische Regierungschef Robert Fico seit längerem eine Anti-EU-Linie. Gegen Flüchtlingsquoten will die Slowakei vor dem Europäischen Gerichtshof klagen, Fico möchte pauschal alle Muslime im Land überwachen lassen. Sicherheit bezeichnet er als vorrangig vor Flüchtlingsrechten. Im Rahmen einer neuen Anti-Terror-Gesetzgebung sollen zahlreiche Grundrechte für Verdächtige außer Kraft gesetzt werden.

In Rumänien fällt vor allem der politisch immer noch sehr einflussreiche Ex-Staatschef Traian Basescu durch antiislamische und antieuropäische Tiraden auf. In Bulgarien kommentierte der konservative Regierungschef Bojko Borissow die Anschläge von Paris mit den Worten, in den westlichen „Gettos der Toleranz“ werde das „Profil des Terrorismus“ sichtbar; Europa müsse künftig seine Politik der „Integration von Risikogruppen“ überdenken.

Viktor Orban dürfte all das gerne hören – er sieht sich als derjenige europäische Politiker, der solche Dinge immer als erster auszusprechen wagt. In diesem Sinne legte der ungarische Regierungschef in einem Interview mit der Brüsseler Wochenzeitung „Politico“ noch einmal nach: Seine Europavision, so Orban, sei ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok. Vor allem im Verhältnis mit Russland müsse man mehr auf Realpolitik und weniger auf Prinzipien setzen. Auf die Frage, ob es die EU in zehn Jahren noch geben werde, antwortete Orban lapidar: „Das ist offen.“

-------------------------------------------------------------------------
Quellen:

Orbans Rede in Kötcse:
http://www.miniszterelnok.hu/beszed/orban_viktor_beszede_a_xiv._kotcsei_polgari_pikniken

Orban-Interview für Politico:
http://www.politico.eu/article/viktor-orban-interview-terrorists-migrants-eu-russia-putin-borders-schengen/


Weitere Artikel