Lettland - Die kleinen Unterschiede
Riga (n-ost). Auf erste Eindrücke wird viel Wert gelegt in „Latvia“. Der Hauptbahnhof von Riga, Anlaufstelle für jeden Lettland-Reisenden, wurde gerade erst generalüberholt, und auch die im Norden angrenzende Innenstadt mit ihren aufwändig restaurierten Jugendstilgebäuden, schicken Cafés und modernen Bürotürmen zeugt vom unbedingten Modernisierungswillen der lettischen Hauptstadt. In grauen Business-Kostümen hasten gutbeschäftigte Arbeitnehmer durch die Straßen, und wer einen von ihnen anspricht, bekommt mit Sicherheit zu hören, dass die EU eine runde Sache ist.
Wer den Bahnhof allerdings in Richtung Süden verlässt, dem bietet sich ein ganz anderes Bild. Dort findet sich ein Areal alter Markthallen, wo Kleinhändler Lebensmittel verscherbeln, die die Landwirte der umliegenden Regionen in klapprigen Sowjetkarossen nach Riga transportieren. Dazwischen alte Frauen, die zur Aufbesserung ihrer Rente verkaufen, was sich eben verkaufen lässt: zwei Paar Socken die eine, drei Rollen Klopapier die andere. Und hier hört man ganz andere Stimmen zum EU-Beitritt: besorgte, unsichere, verzagte.
Es sind diese Brüche, die Lettland kennzeichnen. Die Trennlinie zwischen den Jungen, Anpassungsfähigen, die Europa als Chance begreifen, und den Alten, die ihre gewohnten Erwerbsquellen in Gefahr sehen, ist nur eine davon. Eine andere Bruchstelle ist der krasse Gegensatz zwischen Stadt- und Landbevölkerung: Etwa ein Drittel aller Letten lebt in Riga, und auch die anderen großen Städten – Liepaja, Daugavpils, Jelgava – stehen wirtschaftlich deutlich besser da als die ländlichen Gegenden, wo die Skepsis gegenüber den neuen Spielregeln der EU entsprechend größer ist. Bis zur russischen Währungskrise 1998 lag der Hauptakzent des lettischen Außenhandels im Osten. Danach setzte eine kontinuierliche Umorientierung nach Europa ein: 61 Prozent der lettischen Exporte, hauptsächlich Holz, Holzprodukte und Fisch, gehen heute in EU-Länder, 51 Prozent der importierten Waren stammen aus Europa. Von dieser Entwicklung profitierten hauptsächlich flexible Betriebe in den Städten. In den östlichen Landregionen, wo viele Letten bis heute vom Kleinhandel mit Russland und Weißrussland leben, stellen die neuen EU-Außengrenzen dagegen eine erhebliche Erschwerung dar.
Die deutlichste Trennlinie aber ist demographischer Natur: Fast ein Drittel der lettischen Bevölkerung spricht russisch. Die Siedlungspolitik der Sowjetregierung schuf in den fünfziger Jahren eine ethnische Mischgesellschaft, die Lettland bis heute spaltet. Nach der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1991 rückten die Rechte der russischsprachigen Minderheit in den Hintergrund: Die Staatsbürgerschaft des jungen Landes erhielten zunächst nur Letten, und obwohl das Einbürgerungsgesetz inzwischen auf Druck der EU modifiziert wurde, leben heute 500 000 Staatenlose in Lettland – mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Um die Integration der Minderheit zu beschleunigen, verabschiedete die lettische Regierung im Februar ein Gesetz, demzufolge der Unterricht auch an den russischen Schulen des Landes künftig zu 60 Prozent auf lettisch abgehalten werden soll. Viele russische Schüler empfanden das als Diskriminierung und gingen auf die Straße.
Über den Demonstrationen geriet selbst die momentane Regierungskrise zeitweilig in Vergessenheit: Nach anhaltenden Querelen um den autoritären Führungsstil des Premierministers Einars Repse hatte dieser Anfang Februar sein Amt niedergelegt und die Regierung aufgelöst. Den durchschnittlichen Letten jedoch können Krisen dieser Art schon lange nicht mehr beeindrucken: Repses Kabinett war bereits das neunte in der nur dreizehnjährigen Geschichte des jungen Landes. Wenn nach außen hin trotzdem der Eindruck politischer Kontinuität entsteht, dann vor allem deshalb, weil sich alle bisherigen Regierungsbündnisse ausnahmslos im Mitte-Rechts-Feld bewegten. Über die generelle Richtung besteht Einigkeit in Lettland – nur nicht über die jeweiligen Akteure.
Jens MühlingEnde