Estland zeigt es Europa
Von Roland Stork (roland.stork@gmx.net)
Vilnius (n-ost) Im Mai wird auch Estland Mitglied der Europäischen Union. Und das Land zeigt den Alt-EU-Mitgliedern schon mal, dass es nicht nur finanzieller Bittsteller sein will. Trotz seiner Hypothek von 45 Jahren Sowjetherrschaft will es auch eine Vorreiterfunktion in Europa einnehmen.
Das Avantgarde-Projekt heißt "elektronische Identitätskarte". Mit dieser Karte, deren erste Exemplare im Januar 2002 ausgegeben wurden, versuchte der estnische Staat, der bis dahin überhaupt keine Personalausweise kannte, den großen Wurf. Der Ausweis gleicht einer Bankkarte. Der eingearbeitete Chip enthält die auf der Karte gedruckten Angaben, die vergleichbar mit denen in Deutschland sind. Zusätzlich enthält er den Namen und einen persönlichen Code sowie die E-Mail-Adresse des Besitzers. Diese Daten wurden vor Ausgabe des Dokuments beim staatlich beaufsichtigten Zertifizierungszentrum gespeichert. Dieses wiederum gibt die Daten an registrierte Zertifikat-Datenbanken weiter, die von jeglichen Behörden oder Unternehmen geführt werden können.
Und das ist das Besondere am estnischen System: "Private Unternehmen, insbesondere die zwei größten Banken, waren von Anfang an in das Projekt involviert", erklärt Jaanus Kase, Pressesprecher des Zertifizierungszentrums. Hauptfunktionen dieser Zertifikate sind zum einen die Authentifizierung, das heißt die zweifelsfreie Identifikation eines Menschen per Datenfernübertragung. Die Datenbanken können auch Angaben zu Namen und Personen-Code für Anfragen Dritter auf ihre Richtigkeit überprüfen.
Zum anderen kann jeder estnische Ausweisbesitzer seine elektronische Unterschrift rechtsgültig machen. Durch eine kurze Online-Kommunikation mit der zertifizierten Datenbasis kann der Karteninhaber so beliebige Dokumente in national einheitlichem Standard beglaubigen. Das sei ein großer Fortschritt, meint Jaanus Kase. Ähnliche Versuche hätten andernorts "noch wenig sichtbare Ergebnisse" gebracht. "Durch den elektronischen Briefverkehr sparen wir viel Zeit und Geld. Wir brauchen weder Papier, noch Briefumschläge, noch Briefmarken. Außerdem reichen einige CD-Roms für die Buchhaltung", stellt Tarmo Hellat, Manager in Tallinn, die Vorteile für sein Unternehmen heraus. Auch die Behörden versuchen, mehr und mehr Dienstleistungen auf elektronischem Wege durch die Benutzung der Identitätskarte anzubieten: Steuererklärung, persönliche Formularvordrucke oder Immatrikulation an der Universität. Alle Bürger sind außerdem theoretisch über eine zertifizierte E-Mail-Adresse zu erreichen.
Hannes Astok, Vizebürgermeister von Estlands Universitätsstadt berichtet, dass "seit Jahresbeginn bereits über dreißig junge Mütter ihren Antrag auf Mutterschaftsgeld elektronisch abgegeben haben. So müssen sie nicht mit ihren Babys im Arm auf\'s Amt kommen." Allerdings steht Aussage von Ave Kokkonen, die als Leiterin des Grundbuchamtes bei der Stadt Tallinn arbeitet, für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung: "Ich habe kaum praktische Erfahrungen mit der neuen Ausweiskarte. Sie ist nur einfach bequemer, weil sie kleiner ist. Möglicherweise könnte man damit das Internet-Banking benutzen, aber dafür braucht man ein Lesegerät und das haben die Leute meistens nicht."
In der Tat wurden bislang zwar bereits knapp 400.000 der neuen Personalausweise ausgegeben - bei einer Bevölkerung von knapp 1,3 Millionen eine stattliche Zahl. Von den zum Einsatz im Internet nötigen Kartenlesegeräten aber konnten bislang erst 5.000 Stück verkauft werden. "Ein Akzeptanzproblem. Man muss da Prozesse ändern", meint Andreas Lehmann. Er ist Leiter der estnischen Niederlassung der Schweizer Firma Trüb, die die fälschungssicheren Ausweiskarten mit den authentifizierten Personenangaben herstellt. Er ist zuversichtlich und verweist er auf die bereits vorhandenen technischen Voraussetzungen: "Wir haben hier in Estland landesweit Internet-Direktzugang in Breitbandtechnologie und eine sehr gute Mobilfunkabdeckung.". Die Hälfte aller Esten zwischen 15 und 75 Jahren hat Internetzugang, beinahe zwei Drittel besitzen ein Mobiltelefon.
Neuestes Einsatzgebiet der Ausweis-Chipkarte sollen nun öffentliche Verkehrsmittel werden. Bus-Fahrscheine etwa können mit dem Ausweis zum Vorzugspreis - ähnlich wie mit einer Bankkarte - am Kiosk gekauft werden. In der Universitätsstadt Tartu wurde das System zu Jahresbeginn eingeführt, soll die Hauptstadt Tallinn in Kürze folgen. "Wenn Sie ein Girokonto haben, können Sie dieses sogar per Mobiltelefon belasten - im Falle, dass es keinen Kiosk gibt oder der geschlossen ist", erläutert Andreas Lehmann. Die Tickets existieren nur virtuell, einziger Beweis ist die Information auf dem Konto des Ausweisinhabers. Der Kontrolleur kann mit einem mobilen Lesegerät überprüfen, ob der Fahrgast tatsächlich den Betrag überwiesen hat. "Ich habe das getestet und es funktioniert tatsächlich", sagt Bürgermeister Astok. Allerdings, so fügt er hinzu: "In Tallinn werden nur registrierte Bürger in den Genuss der reduzierten Fahrpreise kommen."
Die Verwaltung zeigt sich entschlossen, weitere Anwendungen für das "e-government" zu erschließen. Für die im Herbst 2005 stattfindenden Kommunalwahlen ist geplant, eine elektronische Stimmabgabe zu ermöglichen. "Das Verfahren wird sicherer als beim Onlinebanking sein. Wir werden Hacker engagieren, um mögliche Sicherheitslücken aufzudecken", so Marti Sibul von der Zentralen Wahlkommission.
Bis dahin soll der elektronische Personalausweis längst zum Alltag im Leben der Esten gehören. "Die Identitätskarte ist ein Eckstein der modernen ,e-society\'. Wir werden unsere Anstrengungen verstärken, Estlands führende Position auf diesem Gebiet zu erhalten", sagt Ain Järv, Chef der Zertifizierungsstelle.
Dass Estland hier auf absehbare Zeit eine Vorreiterrolle in der EU, insbesondere für Länder wie Deutschland oder auch die Schweiz übernehmen wird, daran hat Chip-Karten-Spezialist Andreas Lehmann keinen Zweifel: "Das ist doch eine Mentalitätsfrage."
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