Polen

Den Liberalen laufen die Wähler weg

Kobierzyce ist ein polnischer Vorzeigeort. In der Gemeinde in der Nähe der prosperierenden Großstadt Breslau im Südwesten des Landes reihen sich moderne Ein- und Mehrfamilienhäuser aneinander. Ausländische Konzerne haben hier in der Nähe der Autobahn Fabriken und Logistikzentren hochgezogen, hinzu kommen etliche polnische Mittelständler. Allein im Dorf Bielany Wroclawskie, das zu Kobierzyce gehört, ist die Einwohnerzahl innerhalb der vergangenen 15 Jahre um das Dreifache gestiegen.

Agnieszka Niepowska, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, hat gerade ihre Tochter aus der Privat-Kita „Goldene Tropfen“ abgeholt. Jetzt sitzt die 38-Jährige auf einer Spielplatzbank in Bielany und tippt in ihr Smartphone. „Ich weiß absolut nicht, wen ich wählen werde“, sagt die Unternehmerin. In ihrem Familienbetrieb in der Automobilbranche beschäftigt sie rund 70 Mitarbeiter, finanziell gehe es ihr gut. „Aber von der regierenden Bürgerplattform PO, die ich früher gewählt habe, bin ich enttäuscht“, sagt die ausgebildete Lehrerin. Mit einer vernünftigen Rente könnten junge Menschen nicht rechnen, die Sozialversicherung sei eine „Katastrophe“, das Arbeitsrecht zu restriktiv. „Wenn ich keine Patriotin und kein Familienmensch wäre“, sagt sie, „dann würde ich wohl emigrieren“.

Sonntag ist Wahltag – und aller Voraussicht nach der Tag des politischen Wechsels. Gut 30 Millionen Polinnen und Polen können ihr Kreuz bei einer der acht landesweit antretenden Parteien machen. Die meisten werden die nationalkonservative Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski wählen. Unklar bleiben nur Details: Wird die PiS alleine regieren, in einer Koalition, oder aber verhagelt der Parlamentseinzug vieler kleiner Parteien der PiS die Machtübernahme durch eine breite, aber womöglich instabile Anti-PiS-Koalition? Denn auch kleine Parteien – von rechtspopulistisch über liberal bis links – gewinnen im allgemeinen Unmut gegenüber der regierenden Bürgerplattform (PO) von Ewa Kopacz an Zustimmung. 


Den Reformen traut niemand mehr

Menschen wie Niepowska bildeten bislang die Stammwählerschaft der PO. Die Partei, vom heutigen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk gegründet, galt als Vertreterin der Mittelschicht, der kleinen und mittelständischen Unternehmer, der Erfolgsmenschen und der Erfolgshungrigen.

Zu Letzteren gehört auch Marek Wittek. Doch der Kleinunternehmer, der in Kobierzyce eine kleine Transportfirma führt und zusätzlich Taxi fährt, hat seinen Glauben an die Regierung verloren.
Der 33-Jährige spricht eindringlich, aber nicht wütend, eher resigniert. Die Regierung, sagt der gelernte Informatiker, unterstütze die Ausbeuter. Kleinunternehmer stürben aus, und der Staat versage bei langfristigen Investitionen. Sein Kreuz will er am Sonntag daher entweder bei dem Rockstar Pawel Kukiz oder Janusz Korwin-Mikke machen – zwei Populisten rechts der Mitte. „Die sagen zumindest, was sie meinen, anders als Tusk, der nach Brüssel geflüchtet ist.“

Der Regierung Ewa Kopacz bläst ein scharfer Wind ins Gesicht. In den vergangenen Wahlkampfmonaten hat die Regierung zwar einige Reformvorschläge aus dem Hut gezaubert – etwa Steuererleichterungen für Geringverdiener, eine Anhebung des Mindestlohnes oder die Einschränkung prekärer Arbeitsverträge, die immer stärker reguläre Vollzeitstellen verdrängen.

Doch nach acht Jahren an der Macht nehmen viele Menschen der Bürgerplattform das Versprechen auf echten Wandel nicht mehr ab. Beobachter reden von versäumten Sozialreformen, viele Bürger glauben lieber den Verheißungen der Opposition: PiS -Spitzenkandidatin Beta Szydlo will nicht nur die verhasste Rente mit 67 zurückdrehen, sondern auch ein Kindergeld von umgerechnet 120 Euro je Kind einführen und Banken und Handelskonzerne zur Kasse bitten.


Enttäuscht von der Demokratie

Aus Sicht ihrer Anhänger soll die PiS den Polen auch ihre Würde zurückgeben. „Die PiS steht noch für Werte wie Familie und Kirche, sie sind echte Polen, nicht wie die jetzige Regierung, das sind ja nur Polnisch sprechende Verräter“, sagt Ewa Lusnia. Die 66-jährige Rentnerin hat gerade zweieinhalb Stunden in der Sankt Michael-Kathedrale in Warschaus Bezirk Praga gebetet. Auch, weil die ehemalige Buchhalterin seit zwei Jahren keine feste Bleibe hat, nachdem die Lokalverwaltung sie aus der stadteigenen Wohnung geworfen habe. „Das würde mit der PiS niemals passieren“, sagt sie.

Immer mehr Polen sind auch enttäuscht von der Demokratie als solche. „Das Wichtigste: Lasst die Leute arbeiten und vernünftig verdienen“, sagt der 54-Jährige Anton Wierzchol. Der Rentner, der seinen eigentlichen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat 30 Jahre lang als Bergmann gearbeitet. Die Hütten- und Bergwerksbetriebe in Oberschlesien sind inzwischen dicht, neue Arbeitsplätze rar. Wierzchol will nicht sagen, für welche Partei er am Sonntag stimmt. „Wozu überhaupt so häufig wählen?“, fragt er. „Einmal in zwanzig Jahren reicht, dann haben die da oben Zeit, um ordentlich zu schaffen.“


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