„Es war die Hölle“
Von Benjamin Haerdle (bhaerdle@gmx.de)
Olsztyn (n-ost). In regelmäßigen Abständen sorgt die Aufarbeitung von Vertreibung und Flucht während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, Polen oder der Tschechischen Republik für mediale Aufregung. Das geplante Zentrum gegen Vertreibungen oder die Entschädigungsfrage sind häufig diskutierte Themen. In den Hintergrund geraten dabei die Biografien derer, die unsägliches Leid erlitten. Als sich zum Beispiel in den bitterkalten Januartagen 1945 endlich die Flüchtlingstrecks aus der deutschen Provinz Ostpreußen auf den Weg Richtung Deutsches Reich machten durften, kam dies für Hunderttausende zu spät. Die Sowjetarmee überrollte die Fliehenden, zigtausend starben; anderen gelang die Flucht über die Ostsee. In das leergefegte Ostpreußen kamen mit der nachrückenden Front alsbald neue Bewohner, viele von ihnen wurden aus Zentralpolen oder aus polnischen Gebieten des heutigen Litauens, der Ukraine oder Weißrusslands zwangsumgesiedelt oder ihrerseits vertrieben. Das heute polnische Ermland und die Masuren zum Beispiel erlebten dadurch einen nahezu kompletten Bevölkerungsaustausch.
Der breiten Öffentlichkeit in Polen sind diese historischen Vorgänge nur unzulänglich bekannt. Die kommunistische Propaganda schwieg sie in den Nachkriegszeiten tot. Aufklärung scheint nötig. Eine Ausstellung des Instituts des Nationalen Gedächtnisses Bialystok zeigt nun erstmals im ehemaligen Ermland und in den Masuren Schicksale der Jahre 1945-49.
„Solche Ausstellungen sind bitter nötig, denn das Thema Vertreibung war bis zu Wende tabu.“, sagt Jan Rutkowski. Im Mai 1945 erreichte der heute 76-Jährige die damals ostpreußische Stadt Allenstein. Ursprünglich stammt er aus Wolhynien, einem Gebiet nordöstlich von Lemberg (Lviv). Das Gebiet, in dem der polnische Bevölkerungsanteil vor dem Krieg nur 16 Prozent betrug, ging nach 1945 in Folge der Westverschiebung des polnischen Staates an die Sowjetrepublik Ukraine. Als Jugendlicher erlebte er die polnisch-ukrainischen Kämpfe im so genannten Wolhynien-Konflikt. Zwischen 1943 und 1945 überfiel die ukrainische Untergrundarmee überwiegend von Polen bewohnte Dörfer und Siedlungen in Wolhynien. Ziel der Aktionen war es, die Gründung einer unabhängigen Ukraine voranzutreiben. Die brutale Folge: Bis zu 60.000 Polen fielen den Massakern nach Schätzungen von Historikern zum Opfer.
Rutkowski hat diese Verfolgungen am eigenen Leib erlebt. Am 11. November 1943 drangen die ukrainischen Aufständischen in sein Heimatdorf Dolhe ein und töteten 13 Menschen. Das Vieh wurde geklaut, Häuser verbrannt. Dabei meinte es das Schicksal noch gut mit ihm und seinen Nachbarn. Viele Frauen und Kinder konnten sich rechtzeitig in eine Bahnhofstation retten, in der ihnen die deutsche Besatzungsmacht Schutz anbot. In einem Nachbardorf aber, so berichtet er, verbrannten bei einem ähnlichen Überfall 150 polnische Bewohner.
Nach den Übergriffen boten einzig die Städte, in den seit langem Polen, Deutsche, Ukrainer und Juden friedlich miteinander lebten, Schutz vor den aufgehetzten ukrainischen Nationalisten. Die Familie Rutkowskis fand Unterschlupf in der nahe gelegenen Bezirkshauptstadt Sarny. Anfang Mai 1945 ging es für die polnische Familie zwangsweise wieder auf Reisen, denn nur wer die sowjetische Staatsangehörigkeit annahm, konnte bleiben. In Viehwaggons verließen die Polen scharenweise ihre alte Heimat in der künftigen Sowjetunion. Langsam rollten die Züge in das vom Krieg stark zerstörte Ostpreußen. „Es war die Hölle. Die sowjetischen Besatzer rächten sich an den Deutschen. Sie vergewaltigten, mordeten und brandschatzten“, erinnert sich Rutkowski. Auch die Allensteiner Altstadt, die den Krieg relativ unbeschadet überstanden hatte, fiel der Zerstörungswut der Rotarmisten zum Opfer.
Als Rutkowski 1975 zum ersten Mal wieder seine Heimat in der heutigen Ukraine besuchen konnte, fiel er auf die Knie und weinte. Keines der ehemals 60 Häuser stand mehr. Doch die Trauer wich alsbald dem Wunsch nach Versöhnung. 20 Mal war er bislang zu Besuch bei den nach dem Krieg neu angesiedelten ukrainischen Bewohnern, die jetzt in dem Dorf ansässig sind, das auf den Trümmern seines Heimatdorfes entstand. Rutkowskis Initiative war es zu verdanken, dass 1994 Ukrainer und Polen ein Denkmal errichteten, das in beiden Sprachen an das grauenhafte Geschehen im Jahre 1943 erinnert. Gestiftet wurde es von ehemaligen polnischen Einwohnern, gepflegt wird es von den heute dort lebenden Ukrainern. „Die einfachen Menschen, egal ob Polen oder Ukrainer, haben ein gutes Herz. Das ist heute so, das war früher nicht anders“, meint Rutkowski.
So ist mittlerweile auch in den offiziellen polnisch-ukrainischen Versöhnungsprozess etwas Bewegung geraten. Am 11. Juli des vergangenen Jahres etwa gedachten in der ukrainischen Stadt Pawliwka der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski und sein ukrainisches Pendant Leonid Kutschma in einer gemeinsamen Trauerfeier den Opfern Wolhyniens. Für Rutkowski ist das aber nicht ausreichend. „Was fehlt sind Worte der Wahrheit und der Entschuldigung von ukrainischer Seite“. Da sei die deutsch-polnische Freundschaft trotz aller Diskussionen schon weiter: „Dort wird viel gesprochen. In der Aufarbeitung der polnisch-ukrainischen Geschichte müssen dagegen noch viele Dinge ans Tageslicht gebracht werden“.
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