Lettland

Die Kleinen beißen die Hunde

Vilnius (n-ost) Tief gebückte Rücken auf den Feldern. Im Frühjahr, wenn die Bauern in Handarbeit die Kartoffelsetzlinge einstecken, im Spätsommer, wenn sie die reifen Kartoffeln wieder aus der Erde holen. Ein alter Mann sitzt auf einem Schemel und melkt eine einsam stehende Kuh mit der Hand. Danach schiebt er die beiden Milchkannen auf seinem Fahrrad nach Hause.
Keine Szenen aus einem Heimatfilm der Vorkriegszeit, sondern Alltag im Baltikum. In Litauen und Lettland arbeitet noch jeder siebte Erwerbstätige in der Landwirtschaft, im klimatisch weniger begünstigten Estland sind es noch fünf Prozent. Mit dem Ende der Sowjetunion kam auch das Ende der riesigen Kolchosen, den meisten Bauern blieben die drei Hektar, die ihnen noch unter Gorbatschow zum Eigenanbau zugestanden worden waren. Auch heute, zwölf Jahre danach, prägt der Kleinbauer das Bild im Baltikum: eine Kuh, drei Schweine und ein paar Hühner, dazu eine kleine Scheune, keine Maschinen.

"Alle zum Scheitern verurteilt.", sagt Linas Putelis von der Litauischen Landwirtschaftskammer in Kaunas und meint diese Kleinstbauern. Denn der EU-Beitritt Estlands, Lettlands und Litauens und die zu erwartenden Millionenausschüttungen aus den EU-Agrarfonds werden den wenigen Großen zu Gute kommen. Ein gutes Beispiel seien die Kriterien zur Gewährung von Mitteln aus einem schon laufenden Programm der EU: "Dafür brauchen die Bauern drei Jahre lückenlose Buchführung. Glauben Sie, einer der kleinen Bauern hat daran gedacht?"
Auch die neuen Hygiene-Vorschriften würden die Bauern vor den finanziellen Ruin stellen, so Putelis: "Die haben nicht das Geld, sich eine Melkmaschine und Kühlbehälter zuzulegen." Bereits heute seien die kleinen und mittleren Bauern die Verlierer. "Die Molkereien diktieren ihnen die Milchpreise und ein kleiner Bauer mit seinen zwei bis acht Hektar Land verdient bereits heute effektiv kaum mehr als 200 Litas (knapp 60 Euro) im Monat", erläutert Kazimiera Prunskiene, erste Ministerpräsidentin Litauens nach der Unabhängigkeit und Vorsitzende der Bauernpartei.

Nur Wenige haben bislang den Sprung in die "professionelle" Landwirtschaft nach westlichem Vorbild geschafft. Rimantas Darvydas ist einer von ihnen. Knapp 50 km nordwestlich der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt hat er frühzeitig angefangen, alles verfügbare Kapital in neue Ausstattung zu investieren. Seit drei Jahren ist er sogar stolzer Besitzer eines neuen Mähdreschers aus Deutschland. Insgesamt bewirtschaftet er neben seinen eigenen 68 Hektar weitere 230 Hektar gepachteter Flächen.
Seinen Erfolg erklärt er so: "Als die Fleischpreise während der Russlandkrise in den Keller gegangen sind, habe ich mich frühzeitig auf Gemüse und Getreide spezialisiert. Für diese Produkte ist die Nachfrage in der Nähe einer so großen Stadt wie Vilnius stabil. Zudem habe ich alles selbst in die Stadt geschafft, um den Gewinn zu maximieren." Mittlerweile arbeiten auf seinem Hof neben seinen beiden Söhnen zehn Festangestellte und während der Erntezeit 20 Saisonarbeiter.

Große Bauern wie er werden besonders von den neuen, an der Produktion orientierten Direktzahlungen der EU profitieren. 25 % der Zahlungen in der alten EU sind es ab dem laufenden Jahr 2004, volle 100 % ab dem Jahr 2013. Noch größere Chancen bietet der Beitritt zum EU-Binnenmarkt für die verarbeitenden Betriebe. Die Abnehmerpreise für Kartoffeln, Karotten, Zucker, Fleisch oder Milch liegen im Baltikum deutlich unten denen in der heutigen EU. Da auch die Löhne für die Arbeiter niedrig liegen, produzieren die Molkereien und Fleischfabriken hohe Qualität zu konkurrenzlosen Herstellungskosten.

Auch Kestutis Vacetauskas, Generaldirektor des litauischen Wurstherstellers Nemutekas, sieht sich für die Zukunft gut gerüstet. Nahe der Autobahn Vilnius-Kaunas hat er mit Millionen schwerer Unterstützung aus EU-Mitteln eine nagelneue Geflügelschlachtanlage errichtet. Die vollautomatische Produktionslinie kann 4.000 Hühner pro Stunde verarbeiten. "Diese Anlage erfüllt alle EU-Standards und wir hoffen, dass wir mit dem Erhalt des EU-Veterinärzertifikats in Kürze mit dem Export von Hühnerfleisch in die EU beginnen können", erklärt er stolz. "Unsere Verkaufspreise in Litauen liegen derzeit bei einem Drittel des EU-Marktpreises."
Sein Produktivitätsanstieg wird allerdings für viele kleine Wurstfabriken das Ende bedeuten, gibt er gleichzeitig zu: "Ich schätze, dass von den heute etwa 20 Fleischverarbeitern in Litauen nur etwa fünf langfristig überleben werden." Auch beiden Bauernhöfen steht in den nächsten Jahren ein rapider Anstieg der Aufgaben zu erwarten. Bereits heute werden viele abgelegene Dörfer im Baltikum nur noch von alten Leuten bewohnt, die lediglich zur Eigenversorgung wirtschaften. Der Nachwuchs muss sich nach anderer Arbeit umsehen.

Mittelständische Landwirtschaftsbetriebe als Arbeitsplatzalternative sind bislang überall im Baltikum eine große Ausnahme. Nicht allen aber gelingt der Sprung in die Stadt. "Die in der Hauptstadt kümmern sich doch gar nicht um das, was auf dem Land passiert. Wenn aber weiterhin nichts getan wird, werden wir schon in fünf Jahren eine grassierende Arbeitslosigkeit haben." Der durch Nichtstun und Hoffnungslosigkeit beförderte Alkoholismus ist schon heute ein großes Problem.
Chancen gäbe es schon, auch die ländlichen Regionen voran zu bringen, meint Augusts Brigmanis, Vorsitzender der lettischen Bauernpartei, die an der Regierung beteiligt ist. "Neben einer Ausweitung der Subventionen, die bislang nur an Bauern mit über 15 Hektar Landbesitz ausgezahlt wurden, auf alle Landwirte, muss es intensive Beschäftigungsförderprogramme für den ländlichen Raum geben, die es den Kleinbauern ermöglichen, ihren Hof als Teilzeit- oder "Feierabendbetrieb" weiter zu führen."
Auch eine Umstellung der Produktion, so Linas Putelis, biete Chancen. "Gerade im Osten Lettlands und Litauens mit seinen mageren Böden ist die Haltung von Schafen und Ziegen und die Vermarktung von deren Milchprodukten ein großes Potenzial, ebenso wie die Pferdezucht und ,Urlaub auf dem Bauernhof'." Die Regierung müsse den Bauern hier aber mit Fortbildungsmaßnahmen und Finanzierungshilfen schnellst möglich zur Seite stehen.

So wird der EU-Beitritt in den nächsten zehn Jahren die Land(wirt)schaft des Baltikums gewaltig verändern. Das ländliche Idyll, das heute noch vor allem die hügeligen östlichen Regionen Litauens, Lettlands und Estlands mit ihren Holzhäusern und kleinräumigen Feldern, Wiesen und Feuchtgebieten auszeichnet, steht dabei auf dem Spiel.

*** ENDE***


Weitere Artikel