Flüchtlingschaos an der Grenze
Uday und Mojid sitzen auf dem Boden, haben ihre Socken ausgezogen und reiben sich ihre Füße, die voller Blasen sind. Die beiden Männer sind Mitte 20, aus Damakskus, der eine Mathematik-, der andere Ingenieurstudent, so erzählen sie. Vor zwei Wochen seien sie aus der syrischen Hauptstadt aufgebrochen, sie wollten dem Bürgerkrieg entfliehen, nicht kämpfen. Deutschland heißt ihr Traumziel, dort möchten sie weiterstudieren. Am Vortag sind sie die 50 Kilometer aus dem serbischen Subotica bis ins ungarische Szeged zu Fuß gelaufen. Dort hat die Polizei sie aufgegriffen und zurück an den Sammelpunkt zur Grenze gebracht. „Hungary bad“, sagen sie, „Germany good!“
Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze. Hier, direkt neben den Bahngleisen der Zugstrecke zwischen Subotica und Szeged, warten hunderte von Flüchtlingen auf einem Acker. Sie haben einen Kilometer weiter südwestlich die Grenze überquert, dort befindet sich wegen der Bahnstrecke eine Lücke im Stacheldrahtzaun, den Ungarn gebaut hat und zur Zeit noch um weitere Sperranlagen verstärkt.
Polizisten haben die Flüchtlinge am Sammelpunkt eingekreist, damit niemand auf eigene Faust weiterläuft. Hier warten sie nun, Stunden um Stunden, dass ein Bus sie in ein zwei Kilometer entferntes Erstaufnahmelager bringt, das jedoch völlig überfüllt ist. Außer Polizeibewachung am Sammelpunkt haben die ungarischen Behörden nichts organisiert. Getränke, Verpflegung, Decken, Schlafsäcke und einige Zelte – all das wird von Freiwilligen der Szegeder Flüchtlingshilfe MigSzol breitgestellt, einer Facebook-Initiative, die sich im Juni zusammenfand und in der um die hundert Menschen Spenden sammeln und den Flüchtlingen ehrenamtlich helfen.
Fluchtversuche aus dem Lager
Balazs Szalai und Mark Kekesi, zwei MigSzol-Mitbegründer, sind fassungslos über das Versagen des Staates bei der Notaufnahme. „Das Durcheinander und die Planlosigkeit werden immer größer“, sagen sie. Weil viele Flüchtlinge schon seit dem Wochenende unter freiem Himmel übernachten müssen, bei Temperaturen von fünf bis zehn Grad, kam es mehrfach zu Fluchtversuchen. Zuletzt am Montag, als 200 Flüchtlinge die Polizeisperre durchbrachen und sich über die Autobahn auf den Weg nach Budapest machten. Doch auch sie wurden wieder zurückgebracht.
Ungarn hätte lange Zeit gehabt, eine Logistik für die Flüchtlinge aufzubauen, sagt die Ko-Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation Helsinki-Komitee, Marta Pardavi. Schon seit zwei Jahren stiegen die Flüchtlingszahlen kontinuierlich an. „Aber es fehlt an politische Willen“, so Pardavi, „Ungarn will einfach keine Flüchtlinge aufnehmen.“
Stattdessen geht die Regierung des Ministerpräsidenten Viktor Orban die Probleme polizeilich und ordnungspolitisch an. Neben dem Bau von Sperranlagen an der Grenze und eines Erstaufnahmelagers, das mit zwei Ringen aus drei Meter hohen Stacheldrahtzäunen umgeben ist, wurden letzte Woche mehrere Gesetze verschärft. Illegaler Grenzübertritt ist jetzt eine Straftat, die Beschädigung des Grenzzauns kann mit mehreren Jahren Gefängnis geahndet werden, neue Grenzjägereinheiten wurden gegründet. Künftig sollen auch Armeeeinheiten an der Grenze gegen Flüchtlinge vorgehen, Schießbefehl in Notsituationen inklusive. Ungarn wolle keine Veränderung seiner ethnischen Zusammensetzung und „keine größere islamische Gemeinschaft im Land“, begründete Viktor Orban diese Politik am Montag auf einer Diplomatenkonferenz.
Niederungen ungarischer Politik
In Röszke wissen die Flüchtlinge nichts von den Niederungen der ungarischen Politik. Die meisten sind verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. So wie auch eine alte afghanische Frau, die sich an der Hand ihres Schwiegersohnes mit einem Gehstock über die Gleise geschleppt hat. Sie ist blind, ihr Rücken verwachsen. Am Sammelpunkt lässt sie sich auf den Boden fallen, völlig erschöpft. Sie trägt nur einen dünnen Pullover, eine dünne Hose und Gummisandalen ohne Socken. Ihr Schwiegersohn massiert ihr die Füße, neben ihr sitzt ihre Tochter; eingewickelt in ein Tragetuch trägt sie einen Säugling an der Brust.
Die Familie gehört zu den Hazara, einer in Afghanistan vielfach diskriminierten Minderheit. Sie sprechen nur ein paar Brocken Englisch. Zwei Monate hat ihre Flucht gedauert, sagen sie. Wie die alte, blinde Frau die Reise geschafft hat, ist ein Rätsel. Sanft wiegt die Tochter ihren Säugling. Sie schaut ihre Mutter an, dann dreht sie sich weg. Tränen fließen ihr übers Gesicht.