„Die Eskalation war teilweise inszeniert“
n-ost: Herr Risovic, Sie waren an der griechisch-mazedonischen Grenze, als die Regierung dort am vergangenen Donnerstag den Ausnahmezustand verhängte und den Übergang für Migranten blockierte. Wie haben Sie die Situation erlebt?
Marko Risovic: Wir Reporter standen etwa 50 Meter entfernt von dem Grenzzaun. Hinter dem Stacheldraht drängten sich in der Hitze an die 1.000 Flüchtlinge, ganz vorne viele Kinder sowie Fotografen und Kamerateams, die von der griechischen Seite aus filmten. Am Stacheldraht standen bewaffnete Polizisten. Die Regierung hatte die Grenze ja dichtgemacht, es durfte niemand herüber. Auch für uns Medienleute galten strenge Regeln: Wir durften nicht näher heran, die Polizei sagte, die Flüchtlinge würden sonst nervös und aggressiv.
Um die Welt gingen vor allem Fotos vom darauffolgenden Samstag. Die Polizei ging mit Blendgranaten und Tränengas auf die Flüchtlinge los, weil diese den Zaun niedergerissen hatten.
Risovic: Dass gerade diese Bilder überall zu sehen waren, war meiner Meinung von mazedonischer Seite beabsichtigt. Die Situation kam uns Reportern bereits am Samstagmorgen merkwürdig vor: Wir sahen viel weniger Polizisten als am Tag davor. Und plötzlich durften wir Medienvertreter ganz nah an den Stacheldraht heran – bis zu 20 Meter. Als dann die Flüchtlinge den Zaun durchbrachen und panisch durchs hohe Gras liefen, begleitet vom Knallen der Blendgranaten, waren wir ganz dicht dran.
Sie meinen, die mazedonische Regierung wollte der Welt zeigen, dass sie mit der Lage überfordert ist?
Risovic: Ja. Das ist meine Einschätzung und die aller Kollegen, mit denen ich vor Ort gesprochen habe. Kurz darauf öffnete die Polizei dann ja die Grenze – und ließ die Flüchtlinge ohne weiteres durch. Die Bilder von den Blendgranaten lieferten sozusagen die Legitimation für diese Kapitulation. Misstrauisch machte uns Reporter vor allem, dass am Samstag so wenig Polizei zu sehen war, obwohl sich bereits am Freitag dramatische Szenen abgespielt hatten.
Welche?
Risovic: Die Polizei blockierte noch den Zaun, wollte aber wohl wegen der mörderischen Hitze einige Frauen und Kinder zum Bahnhof nach Gevgelija durchlassen. Sobald diese Menschen über die Grenze liefen, begannen die Flüchtlinge hinter ihnen panisch zu drücken und zu schubsen. Kinder schrien, einige Menschen bekamen keine Luft mehr und wurden ohnmächtig. Die Polizisten wollten anscheinend niemanden verletzen, drückten aber so fest mit ihren Schutzschildern gegen die Menschen, dass einige bluteten. Einige Reporter haben den Leuten vom Roten Kreuz geholfen, die Menschen zu versorgen.
Haben Sie oder Ihre Kollegen den Redaktionen Ihre Vermutung mitgeteilt, dass es sich am Samstag um eine Inszenierung handelte?
Risovic: Ich denke nicht. Wir haben untereinander darüber gesprochen, aber dann waren alle damit beschäftigt, hinter den Flüchtlingen herzurennen und die ersten zu sein, die diese Bilder auf den Markt bringen. Es kann aber sein, dass die schreibenden Journalisten vor Ort das Thema aufgegriffen haben.
Auf Facebook wiederum kursieren Bilder aus der mazedonischen Zeitung „Telegraf“, auf denen Polizisten kleine Kinder über den Grenzzaun heben. Von Eskalation keine Spur.
Risovic: Die Polizei hat in vielen Situationen den Flüchtlingen geholfen, wie auch am Freitag, als sie einige Migranten durch den Zaun ließ. Gleichzeitig ist es gut möglich, dass der „Telegraf“ diese Bilder gezielt eingesetzt hat. Mazedonische Zeitungen sind nahezu alle im Besitz von Oligarchen oder werden von Regierungsseite beeinflusst. Man wollte wohl der eigenen Bevölkerung sagen: So brutal, wie die internationalen Medien unsere Polizei zeigen, ist sie gar nicht.
Wie sieht es jetzt am Grenzübergang aus?
Risovic: Wie die meisten Reporter bin ich am Montagabend abgereist. Zu dem Zeitpunkt war die Lage weitestgehend friedlich. Die Grenze ist offen, es gibt keinen Stacheldraht mehr. Die Polizei winkt die Flüchtlinge in kleinen Gruppen durch in eine Art Auffanglager. Von da werden sie dann weitergeleitet in den Ort Gevgelija. Dort warten Busse, die sie nach Serbien an die ungarische Grenze bringen.
Zur Person:
Marko Risovic
arbeitet als freier Fotograf in Belgrad u.a. für National Geographic,
die NZZ und die New York Times. Sechs Jahre lang war er als
Fotojournalist bei verschiedenen serbischen Agenturen tätig und gehört
heute zu dem Fotografenkollektiv „Kamerades“.
Fotostrecken von Marko Risovic in der n-ost-Bilddatenbank:
Flüchtlinge in Belgrad
Flüchtlinge in der serbischen Stadt Presevo an der Grenze zu Mazedonien
Flüchtlingstrecks an der mazedonischen Grenze
Eskalation an der Grenze bei Gevgelija