Die Vergessenen
Die Mörder kamen kurz vor Mitternacht. Sie hatten sich das Haus ganz am Ende der Siedlung ausgesucht, so konnten sie durch ein Feld- und Waldstück leichter flüchten. Zuerst zündeten sie das Haus an. Dann schossen sie auf die Flüchtenden. Sie erschossen Eva Nagy und ihren Schwager Jozsef. Eva Nagys Ehemann Tibor wurde verletzt, aber er überlebte. Maria, die taubstumme Tochter des Ehepaares, blieb unverletzt.
Tibor Nagy sitzt eingesunken am Tisch in der Küche seines Hauses, der Rücken krumm, der Blick nach unten gerichtet. Niemals, sagt Tibor Nagy, habe er sich das vorstellen können – Leute, die loszögen, um andere, zufällig ausgewählte Menschen zu ermorden. Er sagt: „Das war Menschenjagd.“
Er hat seine Frau und seinen Bruder sehr geliebt. Seit damals ist kein Tag vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hat. Er fragt sich bis heute, was die Mörder für Menschen sind. „Sie haben nicht nur meine Frau und meinen Bruder ermordet“, sagt er. „Sie haben auch mein Leben und das meiner Kinder zerstört.“ Seine Tochter Krisztina und sein Sohn Tibor jr., die mit am Tisch sitzen, schauen ihn schweigend an. Nach einer langen Pause sagt Krisztina Nagy leise: „Sie haben es getan, weil wir Zigeuner sind.“
Ungereimtheiten bei den Ermittlungen
Nagycsecs, ein kleines Dorf in Nordostungarn, 800 Einwohner, am 3. November 2008 – es war der Ort der ersten Morde in einer Anschlagsserie, bei der die Täter in den Jahren 2008 und 2009 sechs Roma, darunter einen vierjährigen Jungen, ermordeten. 55 weitere Menschen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Auch sie waren fast alle Roma. Eine rassistisch-terroristische Mordserie, die in der Nachkriegsgeschichte Ungarns beispiellos ist.
Die Mörder gingen fast immer gleich vor: Sie suchten in einem kleinen Dorf ein am Ortsrand gelegenes Haus und lauerten ihren Opfern abends oder nachts auf. In einigen Fällen zündeten sie die Häuser an und schossen dann auf die Flüchtenden, in anderen Fällen exekutierten sie ihre Opfer aus dem Hinterhalt.
Nach zahlreichen Ermittlungspannen ungarischer Behörden wurden die Täter erst Ende August 2009 in der ostungarischen Stadt Debrecen gefasst: vier einschlägige, behördlich bekannte Rechtsextreme. Im Laufe des Prozesses gegen die Mörder, der im März 2011 begann, kamen zahlreiche Schlampereien und Ungereimtheiten der Ermittlungen ans Licht. So hatte Ungarns Inlandsgeheimdienst die Beobachtung von zwei der rechtsextremen Täter kurz vor Beginn der Anschlagsserie eingestellt, ein Komplize war Informant des Militärgeheimdienstes, seine Führungsoffiziere wussten möglicherweise von den Anschlägen, gaben ihre Erkenntnisse jedoch nicht weiter.
Spuren verwischt
Zudem tauschten Ermittlungsbehörden ihre Erkenntnisse nicht rechtzeitig untereinander aus, teilweise wurden Spuren an den Orten der Verbrechen verwischt. Überhaupt gingen die Ermittler lange Zeit davon aus, dass es sich bei den Morden um Abrechnungen rivalisierender Roma handele.
Nach knapp zweieinhalb Jahren Prozessdauer erhielten im August 2013 drei Angeklagte, die Brüder Arpad und Istvan Kiss sowie Zsolt Petö, lebenslängliche Freiheitsstrafen. Das Urteil gegen sie ist noch nicht rechtskräftig, allerdings wird es vom Obersten Gericht Ungarns nur noch auf Formfehler untersucht – an der Schuld der Angeklagten hatte die Berufungsinstanz, die im Mai 2015 das Ersturteil bestätigte, keinen Zweifel. Der vierte Angeklagte, Istvan Csontos, der bei zwei Morden Chauffeur gewesen war, wurde rechtskräftig zu 13 Jahren Haft verurteilt.
So grausam die Mordserie war, so wenig öffentliche Anteilnahme löste sie in Ungarn aus. Die ungarischen Staats- und Ministerpräsidenten, die seit den Morden amtierten, empfingen keinen der Überlebenden oder Angehörigen der Mordopfer. Sie nahmen nicht an öffentlichen Gedenkfeiern für die Opfer der Anschlagsserie teil und sie hielten keine Gedenkansprachen. Auch die breite Öffentlichkeit interessierte sich so gut wie nicht für das Schicksal der Überlebenden und der Angehörigen.
Kein Geld für Grabmäler
Lediglich eine Gruppe von Roma-Bürgerrechtsaktivisten, Intellektuellen und liberalen Politikern machte zusammen mit einigen wenigen Journalisten immer wieder auf das Thema aufmerksam – unter ihnen der ehemalige Parlamentsabgeordnete Jozsef Gulyas. „Sowohl der sozialistisch-liberalen Regierung, in deren Amtszeit die Morde verübt wurden, als auch der jetzigen Regierung unter Viktor Orban ist es peinlich, dass es so eine Mordserie gab, denn sie ist ja einzigartig in Osteuropa“, sagt Gulyas. „Deshalb meint man, es sei besser nicht zu viel darüber zu sprechen.“
Auch Tibor Nagy spürte das Desinteresse und die Herablassung gegenüber ihm als Rom von Anfang an. Als er nach dem Mord an seiner Frau und seinem Bruder vernommen wurde, merkte er, wie skeptisch die Polizeiermittler waren, als er aussagte, er könne sich die Mordtat nicht erklären, er und seine Familie hätten keine Feinde und seien in keine kriminellen Geschäfte verwickelt. „Ich habe ihr Misstrauen gespürt, ich habe gespürt, dass sie mir nicht wirklich geglaubt haben“, sagt Tibor Nagy.
Für das Begräbnis seiner Frau und seines Bruders konnte er nur einfache Särge und Holzkreuze kaufen, für richtige Grabmäler hatten er und seine Kinder kein Geld. So lagen Eva Nagy und ihre Schwager Jozsef Nagy unter zwei Sandhaufen mit hineingesteckten Holzkreuzen. Als die Mörder verhaftet wurden und das wahre Motiv für die Taten ans Licht kam, meldete sich kein Regierungs- oder Behördenvertreter bei Tibor Nagy.
„Er lebt in seiner eigenen Welt“
Nagy wurde 1967 geboren. Er machte einen Acht-Klassen-Abschluss und arbeitete sein Leben lang, zuletzt 2008 als Hilfsarbeiter in einem Kraftwerk. Nach dem Mord an seiner Frau und seinem Bruder erkrankte er an Diabetes und wurde arbeitsunfähig. Er zog weg vom Ort des Mordes, in ein nahegelegenes Dorf, in dem seine Kinder Krisztina und Tibor jr. leben.
Er wohnt in einer ärmlich eingerichteten Haushälfte mit zwei Zimmern, einer Küche, nebenan wohnt sein Sohn. Es gibt kein fließendes Wasser, stattdessen steht draußen auf der Straße, 200 Meter weiter, ein öffentlicher Wasserhahn. Die Toilette besteht aus einem Bretterhäuschen im Hof. Tibor Nagy bekommt eine Rente von umgerechnet 90 Euro im Monat. Sein Sohn ist arbeitslos, seine Tochter Krisztina kümmert sich um ihre taubstumme Schwester Maria. Im Winter haben die Nagys oft kein Brennholz, und auch bei Lebensmitteln reicht es nur für das Nötigste.
Inzwischen ist Tibor Nagy auf einem Auge erblindet, auf dem anderen sieht er nur noch verschwommen. Er kann nur noch schlecht laufen. Geld für regelmäßiges Diabetikeressen und für Medikamente hat er nicht. Alle ein bis zwei Monate muss er ins Krankenhaus, weil sein Blutzuckerspiegel zu hoch ist, oft kommt er auf die Intensivstation. Er liegt die meiste Zeit des Tages im Bett, lesen oder fernsehen kann er nicht. Seine Tochter Krisztina kommt jeden Tag vorbei, bringt ihm Essen und macht sauber im Haus. „Er lebt in seiner eigenen Welt“, sagt sie über ihren Vater.
Letzter froher Augenblick
Im Frühjahr 2014 bekamen einige der Überlebenden der Roma-Mordserie von der ungarischen Regierung eine so genannte Opferhilfe – nach massivem Druck von Bürgerrechtlern, in Anerkennung staatlicher Mitverantwortung für die Mordserie und weil nahezu alle Überlebenden der Roma-Mordserie in tiefstem Elend leben – wie auch Tibor Nagy.
Die Gesamtsumme ist jedoch geringfügig: Sie beträgt umgerechnet rund 23.000 Euro und wurde unter sieben Überlebenden und ihren Familien aufgeteilt. Tibor Nagy erhielt umgerechnet rund 4.000 Euro, davon ließ er einen baufälligen Teil des Hauses renovieren, kaufte Möbel und eine Küche. Reguläre Entschädigungen hat der ungarische Staat bisher nicht gezahlt, auch sonstige regelmäßige finanzielle Hilfe erhalten die Überlebenden der Mordserie nicht.
Tibor Nagys ermordete Frau und sein ermordeter Bruder haben jetzt ein marmornes Grabmal. Allerdings nicht vom ungarischen Staat. Im Herbst 2013 erfuhr ein anonymer Spender aus dem Ausland auf Umwegen vom Schicksal der Familie und spendete Geld für ein Grabmal. Später taten auch einige Roma-Organisationen etwas dazu. Als die Gräber fertig waren und Tibor Nagy Blumen auf sie legen konnte, war das, wie er sagt, vielleicht sein letzter froher Augenblick.
Er wünsche sich, dass seine Kinder irgendwann bescheiden, in Würde leben können, sagt Tibor Nagy. Nein, für sich selbst erwarte er nichts mehr vom Leben. Er werde keine Freude mehr haben, nicht nach dieser Mordtat, das sei unmöglich. „Irgendwann, vielleicht schon bald“, sagt Tibor Nagy, „werde ich bei meiner Frau sein.“