„Die Bild-Schlagzeilen kennt hier jeder“
n-ost: Sie berichten seit fünf Jahren für deutsche Zeitungen und Sender über die Krise in Griechenland. Haben Sie Ermüdungserscheinungen?
Chrissi Wilkens: Manchmal bin ich tatsächlich erschöpft, aber eher wegen des ständigen Drucks und der unlösbaren Situation. Ich sehe jeden Tag die Folgen der Krise für die Menschen hier – und dass der Sparkurs weder den Menschen noch der Wirtschaft geholfen hat. Es muss eine Lösung gefunden werden, doch der Graben zwischen Griechenland und den Gläubigern wird immer tiefer.
Wie halten Sie Distanz zum Geschehen?
Wilkens: Es fällt mir nicht leicht, zumal ich selbst Halbgriechin bin und sehe, dass Familienmitglieder und Freunde ihre Arbeit verloren haben und in die Armut abgerutscht sind. Das tut weh. Ich versuche deshalb, so viele verschiedene Zeitungen wie möglich zu lesen und alle Meinungen über Griechenland zu hören.
Mit welcher Haltung treten Sie Ihren Interviewpartnern gegenüber?
Wilkens: Für mich ist es leichter, an Interviewpartner zu kommen, weil ich selbst aus Griechenland bin und die Sprache spreche. Aber es wird schwieriger, überhaupt noch Leute zu finden, die den Medien etwas sagen wollen. Viele haben schon so oft mit Journalisten gesprochen und haben spätestens nach den jüngsten Entwicklungen resigniert.
Die wenigsten ausländischen Journalisten leben dauerhaft in Griechenland, sondern fliegen ein, wenn es wieder einmal brennt. Was halten Sie von dieser Art der Berichterstattung?
Wilkens: Oft empfinde ich die Berichte über Griechenland als sehr oberflächlich. Allein zum Referendum waren über 700 Medienvertreter in Athen, vom Redakteur bis zum Kameramann. Alle drängten sich auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament. Ich kann es den Journalisten selbst aber nicht vorwerfen, dass sie nur für ein oder zwei Tage einfliegen. Und es gibt auch Positivbeispiele.
Welche?
Wilkens: Ein slowenischer Kollege kommt seit Jahren immer wieder nach Griechenland. Er hält dauerhaft Kontakt zu Politikern, Hilfsorganisationen und einfachen Bürgern. Wenn ich seine Berichte lese, bin ich manchmal etwas neidisch, weil er nicht so tief in der Situation drin steckt wie ich und aus der Distanz die Dinge oft klarer sieht.
Sie begleiten auch ausländische Kamerateams auf Recherchen. Sind griechische Interviewpartner genervt, wenn sie Anfragen von deutschen Medien bekommen?
Wilkens: Meistens gibt es keine Probleme. Spanischen oder italienischen Kamerateams gegenüber sind sie vielleicht freundlicher. Aber Absagen habe ich noch nie bekommen, nur weil ich für ein deutsches Team arbeite.
Worüber berichten deutsche Fernsehteams, wenn sie nach Griechenland kommen? Gibt es ein Muster?
Wilkens: Am Anfang ging es darum, die Armut zu zeigen. Wir waren oft in Suppenküchen. Mittlerweile interessieren sich die Sender auch für die vielen Jugendlichen ohne Perspektive, jeder zweite junge Mensch ist hier ja arbeitslos. Und dann geht es oft um die Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen. Wenn es nur darum geht, starke Bilder zu zeigen, wirkt die Berichterstattung oft oberflächlich.
Was wäre Ihrer Meinung nach wichtiger zu zeigen?
Wilkens: Man könnte z.B. über eine längere Zeit eine Familie begleiten, die zu zerbrechen droht, weil die Eltern beim Referendum über die Sparmaßnahmen mit Nein und die Kinder mit Ja gestimmt haben. Oft stehen diese Familien übrigens weiterhin zusammen. Die meisten Griechen wissen, dass sie die Krise nur gemeinsam durchstehen können. Das ist sehr positiv.
Wie präsent ist in Griechenland die deutsche Berichterstattung über die Krise?
Wilkens: Oft kennen selbst ältere Menschen in einem griechischen Dorf die Schlagzeilen der Bild-Zeitung. Die greift vor allem das Fernsehen hier sofort auf, und das sorgt für aggressive Stimmung. Andererseits berichtet das Fernsehen auch darüber, wenn die ansonsten konservative „Welt“ kritisch über den Sparkurs berichtet.
Deutsche Medien wiederum kritisieren Karikaturen in griechischen Zeitungen, die Wolfgang Schäuble als Nazi im Rollstuhl zeigen. Ist dieses Bild repräsentativ für die griechischen Medien?
Wilkens: Nein. Viele Zeitungen und Sender haben feste Korrespondenten in Berlin, die versuchen, ausgewogen zu berichten. Dennoch kommen die Nazi-Vergleiche bei Lesern und Zuschauern an, weil sie die tiefe Wut gegenüber der harten Haltung Deutschlands ausdrücken. Hinzu kommt, dass die Wunden aus dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Besatzungszeit hier noch tief sitzen. Eine richtige Vergangenheitsbewältigung hat es nicht gegeben. Auf meiner Heimatinsel Kreta beispielsweise hat es während der deutschen Besatzung im Dorf Kandanos ein Massaker gegeben. Der letzte Schritt zur Wiedergutmachung von deutscher Seite geschah im Jahr 1963, als deutsche und kretische Freiwillige dort ein Wasserwerk bauten. Das Thema, ob Deutschland Griechenland noch Reparationen schuldet, ist immer noch sehr präsent.
Bieten Sie solche Hintergründe auch deutschen Medien an?
Wilkens: Ja, diese Themen sind wichtig, weil sie zum Verständnis beider Seiten beitragen. Es gibt aber noch weitere Themen jenseits des Mainstreams, über die ich in den nächsten Krisenjahren berichten möchte. Immer mehr Griechen sind beispielsweise selbstkritischer geworden und fangen an zu improvisieren, um wieder selbstbestimmter leben zu können. Unternehmen besinnen sich darauf, eigene Produkte herzustellen, statt sie zu importieren. Meine Boutique um die Ecke verkauft neuerdings Kleidung, die in Griechenland und nicht in China gefertigt wurde. Und es gibt Pläne, in Thessaloniki wieder die griechische Automarke Pony herzustellen, die dort zuletzt in den achtziger Jahren produziert wurde.
Zur Person:
Caroline Chrissi Wilkens wurde in München geboren, wuchs auf Kreta auf und studierte in München. Seit 2003 ist sie freie Korrespondentin in Griechenland. Veröffentlichungen u.a. im Spiegel, der Berliner Zeitung, der Welt, der Jüdischen Allgemeinen, der österreichischen Presse, Cicero, Mare, Publik Forum sowie Beiträge für Deutschlandradio Kultur, den Deutschlandfunk, ORF/FM4, den BR und WDR. Sie erstellt täglich die Presseschau für das europäische Debattenportal eurotopics. - Zu den Artikeln von Chrissi Wilkens auf ostpol.de.