Es brodelt weiter
Sie tanzten, sangen und diskutierten: Mehr als zwei Wochen dauerte der Protest gegen die armenische Regierung auf der Bagramjan-Allee in Jerewan. Als die Spannungen zwischen den jungen Demonstranten und den Sicherheitskräften mit ihren Schutzschilden wuchsen, stellten sich Prominente dazwischen, um Gewalt zu verhindern. In anderen Städten fanden sich ebenfalls Einwohner zum Protest ein.
Es war einfach zu viel: Zum wiederholten Mal sollte der Strompreis erhöht werden, dieses Mal um 16 Prozent ab August. Die staatliche Elektrizitätsgesellschaft hatte dies mit dem Wertverlust der Landeswährung Dram erklärt und zunächst eine Erhöhung um 30 Prozent beantragt. Das Parlament ließ zwar nur die Hälfte zu, provozierte aber dennoch den Protest der Menschen. Sie glauben, dass sie für das Missmanagement der Elektrizitätsgesellschaft büßen sollen und für jene Unternehmer, die seit Jahren ihre Stromrechnungen nicht begleichen. Diese Geschäftsleute würden nicht belangt, weil sie eng mit der Politik verbandelt seien.
Sogar der NGO-Sektor gilt als „Mafia“
Das Misstrauen der armenischen Bevölkerung in die öffentlichen Institutionen sitzt tief. Welche Reformen die Regierung auch plant, die Menschen befürchten, dass sie nur neue Nachteile erfahren. Das betrifft zum Beispiel die Einführung einer Rentenkasse, in die die Bürger ab 2016 einen Teil ihres Lohns einzahlen sollen. Sie befürchten jedoch, dass sie ihr Geld nicht wiederbekommen.
Aber auch die Oppositionsparteien genießen kein Vertrauen. Nur sehr wenige Medien gelten als unabhängig und professionell. Im Zusammenhang mit dem NGO-Sektor ist von „Mafia“ die Rede angesichts enger Verbindungen zwischen Nehmer- und Geberorganisationen. Sogar das Oberhaupt der armenischen Kirche wird unlauterer Geschäfte verdächtigt.
Viele gut ausgebildete junge Leute bekommen nur schlechtbezahlte Jobs unterhalb ihrer Qualifikation. Mangels Perspektiven gehen sie ins Ausland. Der Internationalen Gesellschaft für Migration zufolge verließen zwischen 2007 und 2013 jährlich bis zu 35.000 Menschen das Land, das nach manchen Schätzungen inzwischen weniger als zwei Millionen Einwohner zählt.
Die Regierung weiß, dass sie die Proteste ernst nehmen muss
Doch nicht alle geben auf. Abseits der Politik und des NGO-Sektors entstand in den vergangenen Jahren eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die sich explizit als „apolitisch“ bezeichnet. Es sind junge Leute, die sich über Facebook zu konkreten Projekten und Aktionen verabreden. So gelang es, den Bau eines Shopping-Centers auf einer Grünfläche im Zentrum Jerewans zu verhindern, auch die Verteuerung von Busfahrten musste nach Protesten zurückgenommen werden. Ein Teil dieser Bewegung ist inzwischen dabei, unter dem Namen „Civil Contract“ eine Partei zu etablieren.
So ist der Regierung offensichtlich klar geworden, dass sie den Protest der Menschen ernst nehmen muss. Nachdem die Polizei am 23. Juni erfolglos versucht hatte, die Demonstranten auf der Bagramjan-Allee mit Wasserwerfern und mit Festnahmen zu beenden, lässt sie die Demonstranten gewähren. Präsident Sargsjan kündigte eine Verschiebung der Strompreiserhöhung für die Verbraucher an. Die höheren Strompreise sollten derweil aus dem Staatsbudget bezahlt werden. Die Demonstranten kritisierten allerdings auch dies, denn letztlich handele es sich um Steuergelder der Bevölkerung.
Noch etwas stört die Demonstranten: Die Versuche einiger russischer Politiker in Moskau, den Protest in Jerewan als von den USA gesteuerte antirussische Aktion nach dem Vorbild des „Maidan“ in Kiew darzustellen. In Armenien sind die Verhältnisse allerdings andere als in der Ukraine. Russland ist militärische Schutzmacht. Gegen den Beitritt Armeniens zur Eurasischen Union gab es in der Bevölkerung wenig Protest.
Allerdings leidet die armenische Bevölkerung unter den Folgen der russischen Wirtschaftskrise, hinter der Elektrizitätsgesellschaft steht die russische Firma Inter RAO, wie ohnehin ein Großteil der armenischen Infrastruktur in den Händen russischer Firmen ist. So gab es in den vergangenen Tagen auch aus Russland Signale zur Beschwichtigung des Protests: Armenien soll einen Kredit in Höhe von 200 Millionen US-Dollar für Waffenkäufe erhalten.
Auch wenn zunehmend weniger Menschen zum Protest auf der Bagramjan-Allee kommen, bleiben die grundlegende Unzufriedenheit über die Korruption und das Misstrauen in die Institutionen. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Protest wieder in größerem Umfang aufflammt.