Ukraine

Rückkehr in Ruinen

Im vorletzten Jahr des Großen Vaterländischen Krieges hat Wolodymyr Sosjura, ein Sohn Debaltsewos, ein patriotisches Gedicht geschrieben: „Ljubit Ukrainu“ heißt es und geht so: „Die Ukraine lieben, wie die Sonne, wie den Wind, die Wiesen und Gewässer, in der Stunde des Glücks und im Moment der Freude ebenso wie in der Stunde des Unglücks.“

„Die Ukraine lieben – das können wir nicht mehr“, sagt die 60-jährige Elena Petrowna. Sie steht in einer Siedlung unweit des Stadtzentrums, die Bäume am Straßenrand in voller Blüte, dahinter Ruinen. Ihr Haus wurde am 16. Februar um acht Uhr früh von einem Artilleriegeschoss getroffen, nur die Grundmauern sind übrig geblieben. Wie die meisten hier ist Petrowna felsenfest davon überzeugt, wer für die Zerstörungen im Ort verantwortlich ist: die ukrainische Armee. Es geschah zwei Tage, bevor die Soldaten Hals über Kopf aus der Kleinstadt flohen.

Debaltsewo, 80 Kilometer nordöstlich von Donezk gelegen, Ende des 19. Jahrhunderts gegründeter Eisenbahnknotenpunkt. Die Stadt entwickelte sich um die Schienen herum – Werkstätten, Depots, Handel. Bis zum Ausbruch des bewaffneten Konflikts hatte Debaltsewo 26.000 Einwohner. Wie in anderen Städten des Donbass rissen prorussische Aktivisten im vergangenen Frühling in der Stadt die Macht an sich. Im Sommer war der russische Frühling vorbei: Die ukrainische Armee nahm auf ihrem Vormarsch auf Donezk das Städtchen ein.

Sieben Monate lang waren die Soldaten in der Stadt. Kein Bewohner will heute etwas Gutes über sie sagen: Sie seien unwillkommen gewesen, Besatzer statt Befreier, man habe sie gemieden, nach drei Uhr nachmittags die jungen Frauen nicht mehr hinausgelassen, da viele Männer betrunken waren.

Anfang des Jahres wurde es enger für die Armee. Sie verlor an Terrain und als die Verbände der Donezker Volksrepublik schließlich das benachbarte Uglegorsk einnahmen, begann sich der Ring um die ukrainischen Soldaten zu schließen. Am Ende waren die verbliebenen Zivilisten und bis zu 6.000 Soldaten so gut wie eingeschlossen. In den Morgenstunden des 18. Februar zogen sich die Ukrainer aus Debaltsewo zurück.

Präsident Poroschenko sprach von einem „geordneten Rückzug“, doch vor Ort war die Lage chaotisch, Verwundete wurden zurückgelassen, die Zahl der Toten ist bis heute umstritten. In der Geschichtsschreibung der Donezker Volksrepublik wird der Tag als „Befreiung von der Okkupation“ gefeiert. Ein paar hundert Eigensinnige hatten wochenlang in den Kellern überdauert, zuletzt ohne Strom, Wasser und Mobilfunk.

Die Spuren des verbissenen Kampfes sind überall. Eingestürzte Dächer, Einschusslöcher in den Verkleidungen der Häuser, zerbrochenes Glas. In Debaltsewo gibt es kaum ein Haus, das nicht getroffen wurde. Dass die Separatisten mit ihrem Beschuss von den umliegenden Stellungen für viele Zerstörungen im Ort verantwortlich sind, mag kaum einer zugeben. Für die, die die Gefechte hier überlebt haben, sind die Separatisten Befreier.

So wie der Kommandant der Stadt mit Kampfnamen Fil, ein nicht mehr ganz junger, durchtrainierter Mann in Militärkleidung und schwarzen Sportschuhen. Er zeigt auf ein schwarzes Loch im Wohnhaus in der Lenin-Straße 15. „Irreparabel beschädigt“, konstatiert er. 60 Prozent der Schäden in der Stadt könnten wieder Instand gesetzt werden. Die Frage ist nur von wem. Und wann.

Fil spricht über den Wiederaufbau durch die neuen Behörden, wie die Separatisten hier genannt werden: Die Versorgung mit Wasser und Strom sei größtenteils wieder hergestellt. Die Bewohner kehren zurück aus Russland und den ukrainisch kontrollierten Gebieten, 17.000 seien es bereits, erklärt der Kommandant. Die Zahl scheint zu hoch gegriffen. Denn Debaltsewos Straßen sind verwaist, und jedes Auto weckt neugierige Blicke.

Noch immer sind in der Ferne Detonationen zu hören. Die Front ist heute etwa zehn Kilometer entfernt. Der Kommandant beschuldigt die andere Seite, die schwere Artillerie nicht, wie vereinbart, abgezogen zu haben. Halten sich denn seine Leute an die Absprache? „Natürlich“. Im Falle einer Eskalation könnten sie jedoch wieder schnell „operativ zur Stelle sein“, sagt er.

Das klingt nicht nach baldigem Friedensschluss. „Beide Seiten sind bereit, bis zum Ende zu gehen“, erklärt der Kommandant. Und Fil macht klar, dass die Donezker Volksrepublik nicht klein beigeben will – vor allem nicht Menschen wie er, die innerhalb eines Jahres vom Fahrer eines Donzeker Firmenbosses zum Kommandanten von „tausenden“ Kämpfern und einer ganzen Stadt aufgestiegen sind. Eine in Friedenszeiten undenkbare Karriere.

Dennoch gewöhnt sich Debaltsewo gerade an einen friedlicheren Alltag. Schulen und Kindergärten sind in Betrieb, die Buchhandlung hat geöffnet. In einer langen Schlange stehen Menschen mit Lebensmittelmarken um einen Laib Brot an. Neben einem mit Schutt gefüllten Bombenkrater am zentralen Platz tanzen Kinder einen ausgelassenen Tanz.

„Streckt die Hände in den Himmel“, brüllt Rufina Sintschenko ins Mikrofon, und die Kinder machen es ihr nach. Sintschenko ist eine Tochter Debaltsewos, sie hat lange in Kiew gelebt und ist vor kurzem zurückgekehrt, um ihrem Geburtsort in diesen schweren Tagen etwas zurückzugeben, wie sie sagt. Viel empfänglicher, viel dankbarer seien die Kleinen hier für ihr Unterhaltungsprogramm als in Kiew oder Charkiw, denn nach den Wochen der Entbehrungen sei die Freude über ein bisschen Spaß besonders groß. Patriotisches und Politisches lässt die 26-Jährige lieber außen vor. „Kinder sind überall Kinder. Bei mir müssen sie sich zu nichts bekennen.“

Doch es scheint, als habe Debaltsewo seine Wahl getroffen. „Die Ukraine lieben und ewig bei ihr bleiben“, mit diesen Worten endet Sosjuras Poem. Die zehnjährige Mila tanzt mit den anderen Kindern am Hauptplatz. In der Schule hat sie ein Gedicht geschrieben, eine Bitte an den „Herrn Obama“ um Frieden. Das Gedicht des Mädchens endet so: „Russland hat Kraft und Stärke, gemeinsam mit Russland werden wir leben.“


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