Die billigen Zigaretten vom anderen Ufer
Vilnius (n-ost) – Bleierne Kälte liegt über der weiten Landschaft. Seit knapp zwei Wochen ist der Nemunas fest zugefroren, ziemlich spät in diesem Winter. Die Hochsaison der Schmuggler hat begonnen – und damit die Schwerstarbeit für den russischen und den litauischen Grenzschutz.
Der träge fließende Strom, unter dem Namen Memel einst Grenzfluss zwischen Litauen und Ostpreußen, bildet heute auf gut 110 Kilometern die Grenze zwischen Litauen und der russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg), bevor er ins Kurische Haff mündet.
Draußen hat es zehn Grad unter Null. Es ist trotz des Schnees auf den Wiesen stockfinster, als Vidmantas und seinen beiden Kollegen vom litauischen Grenzschutz am späten Abend ein verdächtiges Auto am Wegesrand auffällt. Die beiden Insassen, junge Männer, behaupten: „Wir machen einen Ausflug.“ Den Beamten ist klar, dass sie es mit einem Warnposten zu tun haben. Doch sie können nichts tun, die Papiere sind in Ordnung.
Da bemerkt Vidmantas in der Ferne, nahe dem Flussufer, Scheinwerferlicht. Die Beamten steigen in ihren nagelneuen Mitsubishi-Jeep und steuern auf die Lichter zu. Der Versuch, das Auto zu stoppen misslingt, dessen Fahrer gibt Vollgas. Die Beamten feuern in die Luft, dann auf die Reifen des Geländewagens. Sie nehmen die Verfolgung auf.
Die Jagd ist nur von kurzer Dauer. Nach wenigen hundert Metern schießt der Opel Monterey in den Straßengraben. Der Fahrer will zu Fuß flüchten, doch Vidmantas holt ihn ein. Der Grund für die Flucht erschließt sich den Beamten beim Blick in den Kofferraum: 9.500 Schachteln russischer Zigaretten und 300 Kilogramm Bernstein. Der Schmuggler ist ein 37-Jähriger aus Nordlitauen.
Ein ungewöhnlicher Fall. „Das waren schon fast Intellektuelle“, lächelt Oberkommissar Vaidotas Strybis, beim litauischen Grenzschutz in Pagegiai zuständig für Operative Ermittlungen. „Der Mann gehört wohl zu einer uns bekannten Gruppe, die sich auf Bernsteinschmuggel spezialisiert hat.“
Der stellvertretende Leiter des Stabes, Major Ramunas Cemnalianskis, ergänzt: „Normalerweise haben wir es mit Ortsansässigen zu tun. Das sind kleine Fische, Mittelsmänner, die die Ware schwimmend oder mit dem Schlauchboot über den Fluss bringen. Sie fahren sie dann mit Schrottautos weg, um den Verlust gering zu halten, wenn sie erwischt werden sollten.“
Schmuggler und Ordnungshüter spielen ein ständiges Katz- und Maus-Spiel, vor allem rund um Pagegiai. Der 3.000-Einwohner-Ort liegt strategisch günstig gegenüber der russischen Stadt Sowjetsk (früher Tilsit), die der Hauptgrenzübergang vom russischen Gebiet Kaliningrad nach Norden ist. Den insgesamt 540 Grenzschützern an der 212 Kilometer langen Grenze stehen etwa 200 organisierte Schmuggler auf litauischer Seite und noch einmal so viele auf der russischen Seite gegenüber.
„Wir kennen fast alle Schmuggler hier“, meint Patrouillengänger Vidmantas. Nur beweisen lässt es sich selten: „Unlängst haben unsere russischen Kollegen abends einen Mann im Tauchanzug am Ufer des mit Eisschollen bedeckten Nemunas entdeckt. Er sagte, er wolle schwimmen gehen.“
In letzter Zeit reduzieren die Gruppen das Risiko zusätzlich, indem sie vermehrt Minderjährige anheuern, die die Ware über den Fluss bringen. „Da können wir dann nur die Eltern wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht mit Geldstrafen belangen. Nachdem sie aber immer arbeitslos und damit ohne Einkommen sind, bleibt das ohne Folgen“, berichtet Vidmantas.
Da ist die Versuchung groß. Ramunas Cemnalianskis rechnet vor, dass den Kurieren für eine Lieferung mit insgesamt 8.000 Schachteln Zigaretten etwa 200 bis 250 Litas (60-75 Euro) winken, in dieser Gegend ausreichend Geld für einen Monat. Da nähen die Mütter ihren Kindern schon mal eigenhändig „Chalatai“ (weiße Kittel), damit sie in Schnee und Eis schwerer zu entdecken sind.
Der zunehmende Preisunterschied zwischen Russland und Litauen, gerade bei Zigaretten, aber auch bei Alkohol, hat die Zahl konfiszierter Ware im letzten Jahr in die Höhe schießen lassen. Mit 1,1 Millionen Schachteln waren es 2003 fast sechs Mal so viele wie im Jahr davor. „Eine Packung russischer Zigaretten kostet in Kaliningrad legal 50 Euro-Cent, hier sind es bereits 1,50 Euro“, so Ramunas Cemnalianskis.
Experten schätzen die Anzahl geschmuggelter Zigaretten auf dem litauischen Markt auf 30 bis 40 Millionen Schachteln pro Jahr, ein Anteil von etwa 20 Prozent. Grenzschutz, Zoll und Polizei können hiervon gerade einmal 10-15 Prozent sicher stellen. Durch die Anpassung der Steuern an das EU-Niveau wird die Nachfrage nach billiger Schmuggelware noch steigen. Schon in den letzten drei Jahren haben sich die Zigaretten in Litauen um über 70 Prozent verteuert.
Der dramatische Anstieg zeigt auch, wie stumpf die Krallen der Katze Grenzschutz beim Mäusefang sind. Gerade an der Grenze zum Kaliningrader Gebiet. „Bislang wurde alles auf die weißrussische Grenze konzentriert“, gibt ein Beamter zu Protokoll, der ungenannt bleiben möchte. „Die Regierung hatte große Angst vor Migranten dort, da war der Schmuggel bei uns bisher nachrangig.“
Ein einziges Nachtsichtgerät besitzt der litauische Grenzschutz für die gesamte Kaliningrader Grenze, der Bau von neuen Überwachungstürmen scheitert am Vogelschutz und von Kameraüberwachung und Bewegungssensoren, wie sie es an der finnisch-russischen Grenze gesehen haben, können die Beamten nur träumen. Selbst Zäune an den kritischen Stellen werden erst gebaut: sieben Kilometer am Grenzübergang in Kybartai.
Vaidotas Stirbys seufzt: „Zum Glück haben wir in diesem Jahr die neun neuen Jeeps bekommen.“ Zuvor musste sich jeder der etwa 30 Kilometer langen Grenzabschnitte mit je zwei mittlerweile sieben Jahren alten Land Rovern begnügen. Das bedeutet viel Fußarbeit für die jungen Grenzstreifen – und geringe Erfolgsaussichten.
Es bleibt also noch Einiges zu tun, wenn Litauen tatsächlich im Jahre 2006 dem Schengen-Abkommen beitreten will. Im vergangenen Jahr wurde die durchaus erhebliche Unterstützung seitens der EU vorrangig in die neuen Vorkehrungen zur Überwachung des nun Visa-pflichtigen Transitverkehrs zwischen der Exklave Kaliningrad und dem Mutterland Russland gesteckt.
Der überraschend reibungslos funktionierende Transitverkehr hat den Litauern zumindest eine wichtigen Trumpf bereits gesichert: „Wir besitzen als bisher einziges Land in Europa ein Rücknahmeabkommen mit Russland“, erklärt der stellvertretende Leiter des Grenzschutzes, Oberstleutnant Rustamas Liubajevas. Wichtig im Hinblick auf das eigentliche brisante Thema: die illegale Migration.
„Die Zigaretten gehen auf den nationalen Markt, doch die Migranten wollen weiter nach Westen“, meint Vaidotas Stirbys. Litauen sei hier weitaus weniger gut ausgerüstet als beispielsweise Polen, weil die Grenze zu Belarus und Kaliningrad früher keine Staatsgrenze war. Die Gruppe von Tschetschenen, die im letzten Jahr auf dem Nemunas beim illegalen Grenzübertritt ertappt wurde, sieht er nur als „Versuch“, dem bald mehr Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion folgen könnten.
Sein Vorgesetzter Liubajevas ist optimistischer: „Wir sehen hier keine Quelle für mögliche Gefahren.“ Im Hinblick auf den anstehenden EU-Beitritt meint er diplomatisch: „Wir sind ziemlich gut vorbereitet, auch wenn wir natürlich unsere Anstrengungen fortsetzen werden.“
Damit meint er vor allem auch die Korruptionsbekämpfung. Bestechliche Beamte machen alle technischen und personellen Bemühungen wertlos. „Je nach Wert der geschmuggelten Ware kann ein Beamter einen ganzen Monatslohn verdienen, wenn er beide Augen zudrückt“, erklärt Rimantas Cemnalianskis.
Durch verstärkten Personalwechsel und kurzfristige Dienstpläne will er das Problem besser in den Griff bekommen. Sein Chef Liubajevas betont zudem: „Wir achten sehr auf die Auswahl des Personals.“ Das hat aber auch dazu beigetragen, dass zur Zeit an der Grenze zum Kaliningrader Gebiet fast einhundert Planstellen unbesetzt sind.
Nur wenige wollen für 800 Litas (250 Euro) Netto-Einstiegsgehalt bei Schnee und Regen in 12-Stunden-Schichten tags und vor allem nachts Schmuggler jagen, wenn sie für das gleiche Geld auch in der Hauptstadt im trockenen Polizeirevier sitzen können.
Vidmantas und sein Kollege Ramunas sind zwei dieser Vorzeigebeamten. Sie stammen aus der Gegend und kennen keinen Neid auf diejenigen, die mit illegalen Geschäften zu schnellem Geld kommen: „Wir schätzen unsere Arbeit und wollen sie nicht verlieren.“ Und Vidmantas fügt grinsend hinzu: „Wenn es etwas zu tun gibt.“
Zu tun gibt es in dieser Grenzregion sonst nicht viel. Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit dominieren – auf beiden Seiten des Flusses. „Traurig“ beschreibt Vidmantas kurz und knapp die Situation in Pagegiai. Und so können sie nur hoffen, dass die Zeit hilft, den Menschen mehr Perspektiven zu bieten.
Und dass Zeit bleibt, den Grenzschutz zu verbessern. Denn noch ist die Grenze mit ihrem Schmuggel ein vorwiegend nationales Problem. Illegale Migranten aber wären ein europäisches Problem.
Ende