Mazedonien braucht einen Neustart
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Nach neun Jahren unter Ministerpräsident Nikola Gruevski steht Mazedonien am Rand des Chaos. Gruevskis nationalkonservative Regierung hat in seiner Amtszeit ein mafiöses System aufgebaut: Sie beherrscht das Parlament, die Behörden und demokratische Kontrollinstanzen. Polizei und Justiz sind quasi privatisiert. So gut wie alle Bereiche der lokalen und nationalen Regierung, der Geschäftswelt und der Wirtschaft sind unter der Kontrolle einer kleinen Gruppe von Menschen, die alle miteinander befreundet oder sogar verwandt sind.
Auch nahezu alle Medien sind unter staatlicher Überwachung. Nationale und private Fernseh- und Radiostationen, Zeitungen und Internetportale sind im Besitz von Geschäftsfreunden von Nikola Gruevski und dessen Familie. Die wenigen noch unabhängigen Medien sind unter ständigem Druck. Sie werden nicht nur täglich mit Schmähungen und Angriffen attackiert, sondern sind auch konfrontiert mit extremen Bußgeldern und absurden Prozessen in korrupten Gerichten.
Aktivisten werden als Spione oder Idioten dargestellt
Journalisten werden mit unterschiedlichen Methoden unter Druck gesetzt. Der Journalist Tomislav Kezarovski wurde wegen kritischer Berichte für zwei Jahre ins Gefängnis geschickt. Und der Gründer und Herausgeber des unabhängigen Wochenmagazins „Fokus“, Nikola Mladenov, starb 2013 unter dubiosen Umständen bei einem Autounfall. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht Mazedonien mittlerweile auf Platz 123 von insgesamt 180 Ländern.
Die Situation der Zivilgesellschaft sieht ähnlich aus. Menschenrechtsaktivisten werden in den staatlich kontrollierten Medien als Spione und ausländische Agenten, Söldner, Verräter, Perverse und Idioten dargestellt. Auf der anderen Seite hat die Regierung hunderte eigene Organisationen gegründet, die die Gesellschaft unterwandern und konservative Werte verbreiten – und die zweifelhafte Berichte über ihre angebliche Wahlbeobachtung und die „Fortschritte der Demokratie“ herausgeben.
Es begann mit einer Hochschulreform
In Gruevskis Amtszeit seit 2006 wurde in Mazedonien acht Mal gewählt, also durchschnittlich einmal pro Jahr. Dreimal ordnete die Regierung vorgezogene Parlamentswahlen an, um ihre Macht weiter auszubauen. Bei der Verabschiedung des Haushalts im Dezember 2012 kam es zu tumultartigen Auseinandersetzungen im Parlament. Die Polizei griff ein und führte schließlich Journalisten und oppositionelle Abgeordnete ab. Anschließend verabschiedete die Regierungskoalition mit ihrer Mehrheit den Haushalt. Dieser Vorfall war ein Tiefpunkt in der konstanten politischen Krise des Landes.
Ende vergangenen Jahres starteten nun einige Studenten den sogenannten „Frühling im Dezember“. Sie wehrten sich gegen eine lächerliche Schul- und Hochschulreform, die die Eigenständigkeit der Universitäten einschränken sollte. Diese Proteste von unten setzen ein Zeichen für die ganze Gesellschaft. Bald beteiligten sich auch Gymnasiasten an den Aktionen, und es wurde klar, dass Mazedonien auf politischen Aufruhr zusteuerte.
Bürger wurden abgehört
Die Situation spitzte sich weiter zu, als die Opposition sogenannte „Bomben“ veröffentlichte – Protokolle, die bewiesen, dass 26.000 Bürger illegal abgehört worden waren, und zwar auf Anordnung von Ministerpräsident Gruevski und dem Chef der Geheimdienste Saso Mijalkov. Die beiden hatten im großen Stil Oppositionspolitiker und Aktivisten, Journalisten und Geschäftsleute, Boschafter, Diplomaten sowie ihre eigenen politischen Partner abhören lassen.
Die Enthüllung dieser Abhörprotokolle durch die Opposition ist eine bittere Bestätigung der Befunde, die unabhängige Organisationen und ausländische Beobachter bereits seit Jahren liefern. Dazu gehört auch massiver Wahlbetrug. Wahlen in Mazedonien werden in einem Umfeld hochpolitisierter Institutionen, kontrollierter Medien und ethnischer Spannungen abgehalten. Nach Untersuchungen meiner Organisation „Civil - Center for Freedom“ sind Angst, Unsicherheit sowie Diskriminierung sowie die Verletzung von Wählerrechten weit verbreitet. Unsere Analysen zeigen, dass die Wahlprozesse in den vergangenen Jahren betrügerisch waren – und dass es Parlament, Verwaltung und dem Präsidenten schon länger an Legitimation mangelt.
Die Opposition boykottiert das Parlament
Bereits seit einem Jahr ist das mazedonische Parlament nun nicht mehr funktionsfähig. Die Opposition hat die Ergebnisse der Parlamentswahl von 2014 nicht anerkannt und boykottiert seither die Abstimmungen. Dennoch produzieren die Abgeordneten Woche für Woche Dutzende von Gesetzen und erschaffen eine Art Labyrinth von Vorschriften und Regulierungen, die oftmals einfache Grundrechte verletzen und den kriminellen Charakter des Regimes legitimieren.
Die Initialzündung für die derzeitigen Proteste war ein Vorfall, der ebenfalls schon Jahre zurückliegt. Anfang Mai wurde bekannt, dass die Regierung versucht hatte, einen brutalen Polizeimord in der Nacht von Gruevskis Wahlsieg im Jahr 2011 zu vertuschen. Am fünften Mai ging deshalb eine größere Anzahl von Regierungsgegnern auf die Straße. Die Polizei reagierte mit exzessiver Gewalt, misshandelte Demonstranten und nahm etliche fest. Die Proteste wuchsen aber weiter, bald beteiligte sich auch die Opposition. Über 80 Einzelorganisationen schlossen sich zur Bewegung „Bürger für Mazedonien“ zusammen, die nur eine Forderung hat: Den Rücktritt der Regierung Gruevski.
Kurz vor den Protesten hatte es in der nordmazedonischen Stadt Kumanovo einen sogenannten Zwei-Tage-Krieg zwischen der Polizei und bewaffneten Albaniern gegeben. Acht Polizisten starben, 37 wurden verletzt. Zehn Albaner verloren ihr Leben, 26 ergaben sich, Dutzende Häuser wurden zerstört. Zeugenaussagen zufolge gerieten unzählige Zivilisten ins Kreuzfeuer oder wurden aus dem Geschehen herausgezogen und misshandelt.
Zwei-Tage-Krieg als Ablenkungsmanöver
Unabhängigen Analysten und Fachleuten zufolge war diese Aktion ein Versuch der Regierung, die Aufmerksamkeit vom Abhörskandal und der politischen Krise abzulenken und in einen ethnischen Konflikt umzuwandeln. Gruevskis Regierung wollte eine neue Dynamik in die Krise bringen und wieder die Oberhand gewinnen. Doch das Gegenteil geschah: Die lange uneinigen ethnischen Gruppen im Land – Mazedonier, Albanier und andere – taten sich zusammen. Über 100.000 Menschen , darunter die Opposition, Mitglieder von Organisationen und verschiedener Ethnien, kamen am 17. Mai in Skopje zusammen und zeigten eine nie dagewesene Einheit.
Tags darauf organisierte Gruevkis Partei einen Gegenprotest und bestellte dazu seine Verwaltungsangestellten in den eingezäunten Bereich vor dem Parlament. Trotz Druck und massiver Propaganda kamen nicht mehr als 30.000 Anhänger Gruevskis. Nun bleibt die Lage unsicher und angespannt. Nur wenige hundert Meter voneinander entfernt kampieren jetzt Anhänger und Gegner Gruevskis vor den Regierungsgebäuden.
Die EU schaute weg
Vor neun Jahren begann der Verhandlungsprozess über einen möglichen Beitritt Mazedoniens zur Europäischen Union. Neun Jahre lang haben die EU-Politiker geschwiegen oder allenfalls verhaltene Berichte und Warnungen an die Regierung in Skopje geschickt. Sie haben die Stabilität über die Demokratie gestellt und die Augen vor den Appellen von Menschenrechtsorganisationen verschlossen. Die EU hatte sogar taube Ohren für ihre eigenen Gesandten, wie den früheren EU-Botschafter in Mazedonien Erwan Fouéré oder zahlreiche deutsche Diplomaten. DerenStandpunkte wiederholt Brüssel erst jetzt, nachdem es gemerkt hat, dass ein Mangel an Demokratie die Stabilität zerstört.
Nach Jahren ohne politischen Dialog, kontinuierlicher Verletzung der Menschenrechte, struktureller Gewalt, ethnischen Spannungen, dem Bruch rechtsstaatlicher Standards und Wahlbetrug ist es an der Zeit, die demokratischen Institutionen in Mazedonien umzubauen und das System völlig neu zu starten. Dies wird nur möglich sein, wenn Nikola Gruevski und seine Koalitionspartner zur Verantwortung gezogen werden für ihre immensen Rechtsverstöße in den vergangenen Jahren.
Ohne ernsthafte Neuerungen werden ethnische Spannungen hochkochen und die politische Kultur weiter verfallen. Das Land wird instabil bleiben. Die Mazedonier haben einen großen Schritt weg von der Apathie hin zu gewaltlosem Widerstand gegen die diktatorische Regierung von Nikola Gruevski gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, dass auch Europa etwas tut.
Aus dem Englischen von Sonja Volkmann-Schluck
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Zur Person:
Xhabir Deralla, geboren 1967, ist ein mazedonischer Menschenrechtsaktivist, Schriftsteller und Filmproduzent. Er gründete 1999 die Menschenrechtsorganisation „CIVIL – Center for Freedom“ in der Hauptstadt Skopje, die er seit dem leitet. Zuvor arbeitete er als Journalist für mazedonische Zeitungen und Zeitschriften.