Türkei

Es genügt ein Gerücht

„Plötzlich ist das Gerücht da. Ein einfacher Blick oder ein Lächeln können es auslösen. Aber manchmal braucht es keinen Grund: Jemand sagt nur ein Wort, und ein anderer fügt das zweite hinzu.“ Auch über Hatice gibt es ein Gerücht, es verdichtet und verbreitet sich immer mehr, schwebt drohend über ihr. Bis ihr keine Wahl mehr bleibt als zu fliehen, vor ihrer Familie, die versucht, sie zu töten. Fast schon körperlich ist diese sich immer weiter aufbauende Spannung in Witold Szablowskis Reportage „Weil ich dich liebe, Schwester“ zu spüren. Und auch die Erleichterung zum Schluss, denn Hatice kann entkommen und leben.

Coatstand 
Der polnische Schriftsteller und
Journalist Witold Szablowski.

Mehr als ein Beobachter

Neben dieser Körperlichkeit ist Szablowski selbst in all seinen Texten immer präsent. In der Tradition des großen polnischen Reporters Ryszard Kapuscinski ist er nicht der teilnahmslose Beobachter, sondern Teil der Geschichte. So beschreibt er zum Beispiel seine Angst bei einem Spaziergang durch Diyarbakır, den Frauen zu lang in die Augen zu blicken oder zuzulächeln. Er will kein Gerücht aufkommen lassen.

Seine Texte zeigen auch einen Reporter-Luxus, den sich heute keine Tageszeitung mehr leisten will: Einen Monat hatte er Zeit, um Hatice zu finden und die Hintergründe zu recherchieren. Die ihrer Geschichte und die der anderen Frauen, die den Ehrenmördern nicht entkamen. Entsandt von der polnischen Gazeta Wyborcza reiste er acht Jahre lang immer wieder in die Türkei und brachte jeweils eine Geschichte mit nach Hause. In dieser Üppigkeit passt jedes Wort, jeder Protagonist hat Gelegenheit, sich zu entfalten.

Szablowski wollte mit seinen Reportagen den Polen die Türkei nahebringen. Zwei Länder, die, wie er sagt, viel gemeinsam haben: Beide waren einst große und mächtige Reiche, in beiden ist eine Sehnsucht nach dieser glanzvollen Zeit spürbar. Fraglich ist, ob er einen spezifisch polnischen Blick auf die Türkei wirft. Sicher aber, dass es in Polen keine nennenswerte türkische Community gibt und seine Texte frei sind von Erklärungsversuchen für vermeintliche Probleme von und mit Migranten.


Eine Gesellschaft auf Identitätssuche

Dass die Türkei ein höchst widersprüchliches Land ist, gehört schon zu den Binsenweisheiten. In Szablowskis Reportagen wird sie aber besonders deutlich: Sie handeln nicht nur von den Opfern von Ehrenmorden und anderen Frauen-Schicksalen in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft. Sondern auch vom Stolz eines Schuhmachers über seinen Bestseller, das Schuhmodell, das 2003 in Bagdad um ein Haar George W. Bush verfehlte. Von einem Sexologen, der die Komplexe beschnittener Männer behandelt. Oder von zwei Frauen am Ägäis-Strand – eine im alles verhüllenden Burkini, die andere oben ohne.

Da all diese Texte vor 2010 entstanden, sind Gezi-Proteste und die schleichende Islamisierung noch fern. Doch die Antworten, die Szablowskis Protagonisten suchen, sind noch immer aktuell, nach der ganz persönlichen Identität und der der Gesellschaft. Dabei geraten auch die Grundfesten der türkischen Gesellschaft ins Visier. Szablowskis Begegnung mit der Biographin der geschiedenen Frau Atatürks, Latife, erklärt nicht nur den Mythos des omnipräsenten Staatsgründers. Sondern auch dessen Schattenseiten: Die Einsamkeit, in der Latife starb, geschmäht von den Historikern. Ein Urteil darüber müssen sich die Leser aber selbst bilden, Witold Szablowski entzieht sich elegant.



    

 

Witold Szablowski
Weil ich dich liebe, Schwester. Reportagen aus der Türkei.
Vliegen Verlag
224 Seiten
ISBN: 978-3981339253
16,90 Euro


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