„Hinter Absurditäten steckt große Tragik“
n-ost: Sieben Mal waren Sie für die Dreharbeiten zu „Domino Effekt“ in Abchasien. Wie reist man in ein Land, das es auf der Landkarte gar nicht gibt?
Elwira Niewiera: Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste ist der Weg durch Georgien. Dafür braucht man eine bestimmte Genehmigung des georgischen Staatsministers für Reintegration. Die zweite Option ist die Einreise über die russische Grenze. Dieser Weg ist völkerrechtlich illegal. Dafür haben die russischen Zöllner aber eine Lösung gefunden: Der Pass wird einfach nicht gestempelt. Das abchasische Visum bekommt man übers Internet. Damit hatten wir nur bei unserer ersten Reise Probleme. Kurz vor Abflug konnte ich aber eine inoffizielle abchasische Botschafterin in Deutschland ausmachen. Sie gab uns die Handynummer von Maxim Gunjia. Am Grenzposten machte man große Augen: „Maxim Gunjia? Das ist unser Außenminister!“
Ihr Protagonist Rafael ist Sportminister von Abchasien. Im Film organisiert er mit großem Aufwand die Domino-WM in seinem Land. Was steckt dahinter?
Niewiera: Hinter all diesen Absurditäten steckt eigentlich große Tragik. Die Republik lag nach dem Bürgerkrieg 1992/93 in Trümmern, dann kam noch ein Embargo hinzu. Wenn man lange in einer solchen Isolation lebt, wird jede internationale Aufmerksamkeit kostbar. Die Abchasen haben 100 000 Dollar in dieses Event investiert, in der Hoffnung, dass Menschen kommen und sehen, dass sie ganz normal sind und sie anerkennen. Diese Hoffnung ist nicht in Erfüllung gegangen, aber die Veranstaltung hat die Menschen stolz gemacht.
Die Abchasen sind in ihrem eigenen Land in der Minderheit. Wie funktioniert das Zusammenleben mit Georgiern, Armeniern und Russen?
Niewiera: Nur 100 000 der 240 000 Einwohner von Abchasien sind Abchasen. Die vielen Armenier und anderen kaukasischen Völker haben eingeschränkte Rechte. Sie dürfen beispielsweise keine öffentlichen Ämter bekleiden. So haben es die Abchasen in der Sowjetzeit erlebt. Damals wurden die offiziellen Posten nur mit Georgiern besetzt. Heute drehen die Abchasen den Spieß um.
Im Film werden Archivbilder des Bürgerkriegs von 1992/93 gezeigt, in dem Abchasien versuchte, sich von Georgien abzuspalten. Wie merkt man den Menschen diese Kriegserfahrung heute noch an?
Niewiera: Die Menschen leben sehr stark in der Vergangenheit. Rafael plagen noch immer schwere Schuldgefühle. Als Panzerkommandant hat er oft Entscheidungen getroffen, bei denen Menschen gestorben sind. Er kann den Angehörigen auf der Straße bis heute nicht in die Augen sehen. Viele Abchasen bräuchten dringend eine Kriegsaufarbeitung. Die wurde aber nie geleistet.
In Georgien, nahe der gemeinsamen Grenze leben noch immer rund 200 000 georgische Vertriebene in provisorischen Unterkünften. Für die Georgier sind sie Abchasen, für die Abchasen Georgier. Diese Menschen sind seit 20 Jahren Geiseln des Konflikts.
Gibt es Initiativen zur Aufarbeitung?
Niewiera: Bei der Premiere unseres Films habe ich mit einem Mitarbeiter der Berghof Foundation gesprochen. Die deutsche NGO hat nach dem Bürgerkrieg jahrelang versucht, zwischen der abchasischen und georgischen Kriegsgeneration zu vermitteln. Mittlerweile arbeiten sie mit Jugendlichen. Man versucht die jungen Menschen darauf vorzubereiten, später politische Ämter und Verantwortung zu übernehmen und so eine Aussöhnung zu ermöglichen.
Russland hat als erstes Land Abchasiens Unabhängigkeit anerkannt. Welche Rolle spielt Russland in Abchasien heute?
Niewiera:
Alle Länder, die Abchasien anerkannt haben (Venezuela, Nicaragua und
Nauru), haben vorher Deals mit Russland abgeschlossen. Russland schickt
Geld, zahlt Renten, baut Infrastruktur auf. Allerdings nur so viel, dass
Abchasien gerade so am Leben erhalten wird. Jedes Jahr gibt es neue
russische Initiativen, wie man Abchasien stärker an sich binden kann. Im
vergangenen Jahr beschloss man eine strategische Partnerschaft. Ein
Stück Unabhängigkeit haben sich die Abchasen bisher bewahren können:
Russen dürfen in Abchasien keine Grundstücke kaufen.
Wie sehen die Abchasen den russischen Einfluss?
Niewiera:
Das ist ein sehr zwiespältiges Verhältnis. Die Abchasen sind den Russen
sehr dankbar dafür, dass sie sie anerkannt haben. Unabhängigkeit von
Georgien bedeutet aber praktisch Abhängigkeit von Russland. Man könnte
das eine Zwangsliebe nennen. Im Bürgerkrieg hat Russland den Abchasen
geholfen, den Krieg gegen Georgien zu gewinnen. Dann haben sie aber die
Grenze dicht gemacht und die Region damit völlig isoliert. Die Abchasen
durchschauen, dass sie ein geopolitischer Spielball zwischen Russland
und Georgien sind. Darüber sprechen sie aber nur im Privaten, nicht in
der Öffentlichkeit.
Die Krim und Ostukraine liegen nicht weit entfernt. Sind diese Krisenherde und Russlands Handeln dort Thema in Abchasien?
Niewiera:
Die Abchasen schauen vor allem russisches Fernsehen und haben so auch
die russische Sichtweise übernommen. Sie sehen keine Parallelen zwischen
der Ukraine und ihrem Land.
Gibt es neben den russischen Medien Möglichkeiten sich unabhängig zu informieren?
Niewiera: Durch das Internet kann man das schon, aber das machen die Wenigsten. Neben den russischen Medien gibt es einen öffentlichen und einen privaten abchasischen Sender und zwei Wochenzeitungen. Darin wird aber nicht über Ereignisse aus der Welt berichtet. Es gibt nur lokale Nachrichten. Das ist ein Mechanismus: Wenn dich die Welt vergessen hat, dann vergisst du auch, dass es noch etwas anderes gibt.
Die
polnische Reportagelegende Ryszard Kapuscinski schrieb einmal über
Abchasien: „Es gibt einen Ort, der ein Paradies auf Erden sein könnte,
doch dort gibt es mehr Feldminen als Menschen.“ Wie sehen Sie die
Zukunft Abchasiens?
Niewiera: Auf der einen Seite ist Abchasien wirklich paradiesisch, auf der anderen Seite ein verfluchter Ort. Ich sehe keine klare Zukunft für die Abchasen. Abchasien strebt den Anschluss an Russland nicht an und Russland genügt die Abhängigkeit. Ich denke das Land wird in den nächsten 15 bis 20 Jahren in dieser Situation verharren. Oder es könnte noch schlimmer werden: Die größte Angst der Abchasen wäre ein Zusammenschluss Russlands mit Georgien.
Zur Person:
Elwira Niewiera ist eine polnischer Dokumentarfilmemacherin und lebt seit 2003 in Berlin. 2007 drehte sie ihren ersten abendfüllenden Dokumentarfilm „Bulgarian Stories“. Ihr zweiter Dokumentarfilm „Domino Effekt“ (zusammen mit Piotr Rosolowski) wurde weltweit bei über 25 Festivals gezeigt und gewann viele Preise, darunter die Goldene Taube im Deutschen Wettbewerb bei Dok Leipzig und das Goldene Horn beim Krakow Filmfestival. Mit ihren bisherigen Projekten setzt sie sich vielschichtig mit den gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen in Osteuropa auseinander.