70 Jahre Krieg
Der rumänische Philosoph Mircea Eliade schreibt, Geschichte entstehe erst dann, wenn die zyklische Struktur der Zeit von einer Katastrophe, einem großen Unglück für die ganze Gemeinschaft durchbrochen werde. Zusammen mit dem Leid komme die Hoffnung auf dessen Ende auf, und diesem Ende verdanke die Geschichte ihr Ziel.
Eine Katastrophe durchbreche das Rad der Zeit in den tiefsten Schichten der menschlichen Vorstellung von Leben und Schicksal und deren Struktur; eine Katastrophe trenne das irdische Dasein von der göttlichen Wirklichkeit ab und leite eine lineare Geschichte samt der dazugehörigen Logik ein. Der Anfang dieser zielgerichteten, sinnhaften Linie sei immer eine Katastrophe.
Den Anfang der Geschichte des heutigen Polens bildet wohl die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Dieser Krieg scheint in Polen eine ungleich größere Bedeutung zu haben als die Ereignisse danach – das politische „Tauwetter“ 1956, die blutige Niederschlagung der Arbeiterproteste 1970, die Solidarnosc-Bewegung Anfang der 1980er Jahre und der Sturz des Kommunismus im Jahr 1989. 70 Jahre nach seinem Ende bedingt die von Generation zu Generation übertragene Erfahrung dieses Krieges, seine Wiederentdeckung und Neudefinition das polnische gesellschaftliche und patriotische Denken, die Begriffe des Opfers der Geschichte und der Sinnhaftigkeit von Geschichte, und spalten dabei die polnische politische Gemeinschaft tief.
Hochmoralische polnische Eigenschaften
Die Gegenwärtigkeit des Themas Zweiter Weltkrieg spielt sich jedoch auf Nebenschauplätzen ab, die an seiner eigentlichen Bedeutung vorbeigehen. Es wird hitzig diskutiert, welchen Sinn die Verteidigung gegen den Polenfeldzug im September 1939, der Warschauer Aufstand, die polnische Beteiligung entweder am Kampf der westlichen Alliierten oder auf der Seite Stalins gehabt haben. Dabei wiederholen die gegnerischen Parteien meistens nur geläufige Argumente, was dem Streit einen eher rituellen als intellektuellen Charakter gibt.
Polens politisches und intellektuelles Leben ist in zwei große feindliche Lager gespalten, die beide aus der antikommunistischen, oppositionellen Solidarność entstanden sind. Beide Lager sprechen einander jedoch heute – insbesondere seit dem Flugzeugabsturz in Smolensk 2010 – jegliche Daseinsberechtigung ab und streben somit nicht den Konsens, sondern die gegenseitige Vernichtung an. Inzwischen grenzen sie sich konsequent voneinander ab und bilden zwei gesonderte kulturelle und intellektuelle Kreise. Für beide Lager ist der Zweite Weltkrieg der Zeitraum, aus dem Gründungsmythen und -narrationen erwachsen.
Das eine Lager – nennen wir es das „patriotische“ – wird häufig als die politische Rechte bezeichnet und propagiert die Soziale Marktwirtschaft, moralischen Konservatismus und eine Verbundenheit zum Katholizismus. Der Zweite Weltkrieg wird innerhalb dieses Kreises als Reihe von unverdienten Niederlagen angesehen. Deren Grund die deutsche und russische Neigung zur Grausamkeit und der Verrat der westlichen Alliierten an Polen sein sollen, die auf hochmoralische polnische Eigenschaften wie Standhaftigkeit, Unschuld und Edelmut trafen.
Polentum nicht beflecken
Grundlegende Ereignisse sind für dieses Lager die Verteidigung gegen den Polenfeldzug, die Kriegsroute und Bedeutung der Polnischen Streitkräfte im Westen sowie der Untergrundkampf gegen die Deutschen im besetzten Polen, mit dem Höhepunkt des Warschauer Aufstands. Einer der originellsten Denker dieses Lagers, Jarosław Rymkiewicz, schreibt von diesem Aufstand als einem Gemetzel, dem das Weiterbestehen des Polentums zu verdanken ist – das sich auf spritzendes Blut und verstreute Leiber nach der Explosion einer deutschen „Panzerfalle“ stützt. Am 13. August 1944 explodierte in der Warschauer Altstadt ein von Widerstandskämpfern eroberter deutscher Ladungsträger und riss über 300 polnische Widerständler und Zivilisten in den Tod.
Die jüdische Frage nimmt keinen wesentlichen Platz in dieser Narration ein – es sei denn, es geht um die Rettung polnischer Juden vor den Deutschen: Hier wird gern betont, wie viele Polen den Titel „Gerechter unter den Völkern“ erhalten haben. Jegliche Andeutungen, auch polnische Bürger könnten am Holocaust beteiligt gewesen sein, werden als feindlicher, „antipolnischer“ Akt verstanden. Das Polentum ist hier ex definitione unbescholten – so gelten beispielsweise polnische Kommunisten, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, nicht mehr als Polen, wodurch ihre Verbrechen das Polentum nicht beflecken können.
Das andere Lager, das liberale, vertritt Ansichten der Freien Marktwirtschaft und einen moralischen Liberalismus. Da sein Ursprung, genau wie beim „patriotischen“ Lager, in der Solidarnosc liegt, ist seine Sichtweise des Zweiten Weltkriegs bis auf Einzelheiten nicht wesentlich anders. Im Diskurs des liberalen Lagers sind in erster Linie andere Narrationen anzutreffen als die des Polentums, des Adels und der Intelligenz.
Der Krieg dauert fort
Wesentlich ist hier die Geschichte und das Martyrium der polnischen Juden, es ist die Rede vom polnischen Antisemitismus und einer Mitwirkung am Holocaust. Zum Symbol dafür wurde Jedwabne. Beim Pogrom in der Kleinstadt wurden am 10. Juli 1941 fast alle jüdischen Einwohner in einer Scheune lebendig verbrannt. Das Massaker galt jahrelang als eine Tat der Deutschen, bis im Jahr 2000 der amerikanische Historiker polnisch-jüdischer Herkunft Jan Tomasz Gross diese Darstellung als Geschichtsfälschung bezeichnete und damit eine hitzige Debatte entfachte.
Auch regionalen Narrationen, wie der schlesischen oder pommerischen, wird hier ein marginaler Raum gegeben – finden doch die geschichtlichen Erfahrungen der dortigen Bewohner keinen Platz in der hegemonischen polnischen Narration, die den Gesichtspunkt einer zentralen Erfahrung des Mittelstands und Großbürgertums vertritt, wie es sie in der Vorkriegszeit gab.
Der Kulturphilosoph Andrzej Leder, der sich mit seinem Buch „Die verträumte Revolution“ außerhalb dieser beiden Narrationen verortet, zeigt auf, wie polnische Bürger der heutigen Mittelschicht sich als Erben einer Tradition des Adels und der Intelligenz sehen. Dabei lassen sie aber zwei grundlegende Ereignisse außer Acht: die große Übernahme jüdischen mittelständischen Vermögens durch die Polen, zu der es infolge der deutschen Politik der Judenvernichtung kam, und die Abschaffung von Bürgertum und Adel als besitzende Klasse durch die Sowjets in den Jahren 1945 bis 1950. Erst da nämlich wurden in Polen die feudale Eigentumsstruktur und das dazugehörige symbolische Universum vernichtet, das – trotz des Endes der Leibeigenschaft im 19. Jahrhundert oder der Bodenreform vor dem Krieg – in Polens ländlichen Gegenden in unveränderter, vorneuzeitlicher, fast sklavereiähnlicher Form überdauert hatte.
So gesehen dauert der Zweite Weltkrieg in Polen fort – sowohl in den Köpfen derer, die von seinen heroischen Aspekten fasziniert sind, als auch in viel tieferen Schichten, im Fundament der polnischen Gesellschaft. 70 Jahre nach seinem Ende.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes