Polen

„Kleine Füchse“ von Justyna Bargielska

Dreamliner

„Bleib nicht in der Aufzugtür stehen, sonst macht sie einen Fladen aus dir, und als Fladen können wir dich zu Hause nicht gebrauchen“, ermahnte ich Klimek am Morgen des Tages, an dem ich Stulle kennenlernte.

Klimek, dem ich verschwommen den Begriff Fotozelle erklärt hatte, probierte an seinem eigenen kleinen Leibe aus, was eine Fotozelle wirklich war, und hatte nicht einen Moment Zweifel, dass ich ihn so lange als Fladen zu Hause gebrauchen würde, bis die für unsere jeweiligen Aggregatzustände zuständigen Dienste die Tür aufbrechen und uns beide holen kommen würden.


Masern-Impfung und dreckiger Schnee

Wir wollten zur vergessenen Masern-Impfung fahren: Ich hatte einen strengen Anruf bekommen, das Kind sei zwei Jahre mit seinen Impfungen im Verzug und sofort herzubringen, wobei die Person am Telefon nicht auf mich hören wollte, dass Klimek schon jetzt überstark mutterfixiert sei und impfautistisch nach einer Ladung Quecksilber oder Embryowaisen-Extrakt noch mutterfixierter sein würde, und zwar in romantisch-verliebter Weise, was in genau dieser Konstellation absolut im Gefängnis ende. Als die ersten Flocken dreckiger Schnee fielen, blieb der Bus sofort stehen, Fahrzeugschaden, und der Fahrer riet uns, doch auch ein bisschen im Schneegestöber in einem der drei magnetischen Dreiecke unserer Wohngegend rumzustehen, wo sich zwischen Kanal, Bahngleisen und Außenseiter-Integrationszentrum der Dreckschnee der ganzen Stadt sammelt, bis ein anderer genau gleicher, nur weniger schadhafter Bus käme.

Klimek dichtete in dem Gestöber ein Lied, das mit „Schade, schade, unsere schadhafte Welt“ anfing, „der Bus fährt hier nicht“ weiterging und „nur Schnee, dreckiger Schnee“ aufhörte. Ich fragte ihn, ob er unsere Welt damit meine, also meine und seine, oder die Welt von uns allen, aber mein Sohn ersparte mir die Peinlichkeit und versteckte sich in seinem Schal, weil ich schon drauf und dran war, in den furchterregenden, aber unvermeidlichen God Mode zu schalten.

Wir standen noch ein bisschen rum und noch ein weiteres bisschen, aber statt des Busses zog eine fette Wolke heran.

„Diese Wolke gefällt mir nicht“, sagte Klimek im Ausstellungston.

Ich hätte ja ein Taxi gerufen, wenn ich gewusst hätte, ob an dieser Stelle eine Adresse war. Wir drehten jeder noch zwei aufwärmende Halbrunden, bis mein Blick auf das weiße Gesicht meines Sohnes fiel und ich dachte, ach was, eine Adresse ist auch nur
ein Vorurteil, und ein Taxi nach „hier zum Dreieck“ bestellte.

Ich beschrieb das Dreieck noch etwas genauer – nicht das mit dem gesamtstädtischen Abwasserbecken und auch nicht das mit der Mülldeponie, wo sich alle Hauptstadtvögel gefundenes Fressen gegenseitig aus dem Schnabel reißen, sondern das Dreckschnee-Dreieck. Das Taxi kam nach zehn Minuten.

„Und was macht dieses Dreieck im Sommer?“, fragte der Taxifahrer.

„Hat es da zu?“


Ab durch den Abfluss

Manchmal liebe ich meine Kinder so sehr, dass ich ihnen geradezu durch den Wannenabfluss entrinnen könnte. Einmal, als sie beim Waschen frech waren, erzählte ich ihnen, warum ich mich immer so lange einschließe, wenn ich bade. Klara hüpfte auf einem Bein vor Angst, das abfließende Wasser könnte sie mit sich ziehen.

„Ich lasse mich da manchmal mitziehen, wisst ihr“, sagte ich.
„So mache ich Reisen.“

Sie glaubten es mir sofort, das Wasser floss plätschernd und gurgelnd ab wie ein Dreamliner, als wären seine hygienische Funktion und die Rolle bei der Entstehung und Erhaltung des Lebens auf diesem Planeten nur zweit- und drittrangig im Verhältnis zu der Bedeutung, die es bei der flüssigen Fortbewegung dieses Lebens hätte.

„Wo denn“, fragte Klimek, „hin?“
Klara übernahm seine schadhafte Syntax.


Aus dem Polnischen von Lisa Palmes


Justyna Bargielska liest am 3. und 4. Mai aus „Kleine Füchse“:

Sonntag, 3. Mai 2015, 18:00 Uhr
Polnischer Abend bei KLAK
KLAK in der Fabrik
10999 Berlin | Paul-Lincke-Ufer 44a

Montag, 4. Mai 2015, 20:00 Uhr
Club der polnischen Versager
10115 Berlin | Ackerstraße 169


„Wo denn hin?“, fragte sie. Im letzten Moment biss ich mir auf die Zunge, um nicht zu sagen:
„So weit von euch weg wie möglich, ihr mein zweifacher Augenstern.“

Aber ich sagte:
„Woauch hin ich will.“

Was fast noch mehr gelogen war als dass ich Reisen durch den Abfluss machte. Später äußerten die beiden ganz deutlich und ohne Scham die Sorge, ich könnte ihnen ablaufen. Sie klopften an die Badezimmertür, wenn ich zu lange und still drinnen hockte, und entsandten sich schließlich als Biophilen-Delegation unseren Hauses zu mir und flehten herzzerreißend im Chor, ich solle mich doch nicht mehr einschließen. Gut, dann schloss ich mich eben nicht mehr ein.


Arme des Kalmars

Als Klimek und ich von der Nichtimpfung zurückkamen, ließ ich reinen Gewissens die Wanne für uns beide volllaufen, und als wir dann im Badeschaum saßen, rief ich noch Klara dazu. Zu dritt füllten wir die Wanne aus wie ein Humboldt-Kalmar, aber einer aus den goldenen Zeiten, bevor Humboldt ihn entdeckte und mit seinem albernen Namen belegte – ein glücklicher, schneller und selbstlos intelligenter Kalmar. Die heutigen Kalmare pflegen eine Neurose wegen des zweifelhaften Zusammenhangs zwischen dem, wie sie seit Kurzem heißen, und dem, was sie sind. Man könnte ihnen erklären, dass dieser Zusammenhang als statistischer Fehler und damit ganz entspannt zu sehen ist – wenn man ihre Sprache spräche.

Die Forschungszentren machen solche Untersuchungen nicht, denn die Sprache der intelligentesten Meeresgeschöpfe muss eine tausendmal bessere Literatur produziert haben als die Sprache der wahrscheinlich intelligentesten Landtiere, und das würde die Menschen traurig machen. Die Forschungszentren stecken auch deswegen kein Geld in die Erforschung der Kalmarliteratur, weil es gut sein könnte – was sich erst recht keiner laut zu sagen traut –, dass die Kalmare doch keine Literatur produziert haben und den Zusammenhang zwischen Sprache und Literatur als statistischen Fehler sehen, einfach weil sie wissen, wozu Sprache wirklich da ist.

„Ich will euch feierlich was versprechen“, sagte ich zu den anderen Armen meines Kalmars.

Die Kinder rückten von mir ab und sahen mit ihren coladuftenden Schaumkegeln an den Schultern jetzt quasi wie Wasserengel aus.
„Wenn ich wieder mal durch den Wannenabfluss ablaufen will“, sagte ich, „verspreche ich, dass ich euch mitnehme.“

„Kleine Füchse“ ist eine Erzählung über zwei moderne junge Frauen, Agnieszka und Magda, die eine Single mit zwei Halbzeit-Jobs, die andere Ehefrau, Mutter von zwei Kindern und abends Journalistin für eine Lokalzeitung. Beide Frauen haben eine Affäre mit Pajda, einem Messerstecher aus dem Wald bei ihrer Wohnsiedlung. Mit seiner ausgesprochenen Schweigsamkeit und Rätselhaftigkeit ist Pajda die ideale Projektionsfläche und bildet den Gegenpol zum unablässigen Rede- und Denkfluss, in den die weiblichen Hauptcharaktere eingesponnen sind. Auf lapidare Weise werden Erlebtes und Geträumtes, Schwangerschaft, Mutterschaft, Eigenartiges und wie selbstverständlich Übersinnliches beleuchtet. Bargielska konstruiert aus den Schnipseln des Alltagslebens einen polyphonen Roman.

Bargielska, J.: Kleine Füchse, KLAK-Verlag 2015


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