Die tödlichste Naturkatastrophe der Menschheitsgeschichte
Der Mann hat etwas zu erzählen, man sieht es ihm förmlich an. Da ist ein Glühen in Juri Bajkowskijs Augen, und seine Finger fahren unruhig auf dem Podium umher, während seine beiden Kollegen ihre Redezeit überziehen. Lampenfieber, könnte man denken. Aber als Bajkowskij endlich das Wort ergreift, ist seine Stimme klar und ruhig, und man begreift: Der Mann war einfach nur ungeduldig. Der Mann hat etwas zu erzählen. Als professioneller Bergsteiger und Vizepräsident des Russischen Alpinisten-Vereins verfügt Bajkowskij über langjährige Erfahrung beim Bergsteigen höchsten Schwierigkeitsgrades. Die Expedition aber, von der Bajkowskij an diesem Vormittag im Moskauer Klubhaus des Olympischen Komitees berichtet, scheint selbst für ihn ein Gipfelerlebnis der besonderen Art gewesen zu sein. Da kann man schon mal glänzende Augen bekommen.
Vor kurzem erst ist Bajkowskij von einer Bergtour durch den tadschikischen Teil des Pamir-Gebirges zurückgekehrt. Ein Team aus russischen Alpinisten, internationalen Wissenschaftlern und Mitarbeitern des tadschikischen Bergrettungsdienstes war dort zwei Monate lang unterwegs, um den auf 3300 Metern Höhe gelegenen Sares-See zu erforschen. Ein Berggewässer, dessen Entstehungsgeschichte einigermaßen kurios ist: Im Jahre 1911 verursachte ein heftiges Erdbeben in der Pamir-Region einen Erdrutsch, durch den ein 15 Kilometer langer Wall aus Schutt und Geröll entstand, die so genannte Usojskij-Verschüttung. Dieser natürliche Damm blockierte den Lauf des Flusses Murgab, dessen Wassermassen sich langsam zu stauen begannen und den Sares-See entstehen ließen - ein Prozess, der bis heute andauert, denn durch den stetigen Zufluss des Murgab steigt der Wasserspiegel jedes Jahr um weitere 20 Zentimeter. Auf diese Weise ist der See inzwischen zu einer Länge von knapp vier Kilometern angeschwollen, misst an seiner tiefsten Stelle 500 Meter und enthält ein Wasservolumen von 17 Kubikkilometern, was knapp der Hälfte des Lago Maggiore entspricht. Tendenz: steigend.
"Die Geschichte des Sares-Sees ist einzigartig", glaubt Bajkowskij. "Aber leider auch sein Zerstörungspotential." Zwei Gefahrenquellen bedrohen das labile Gleichgewicht des Berggewässers: Einerseits droht die Usojskij-Verschüttung unter dem wachsenden Druck des Sees zu kollabieren, zusätzlich hat sich an einer dem Staudamm gegenüberliegenden Steilwand eine Felsspalte von anderthalb Kilometern Länge gebildet, die schon bei einem leichten Erdbeben das komplette Bergmassiv zum Einsturz bringen könnte. Etwa ein Kubikkilometer Gestein würde dann in den Sares-See stürzen, die daraus resultierende Flutwelle würde riesige Wassermassen über die Ufer treiben, oder, im ungünstigeren Falle, den Zusammenbruch der Usojskij-Verschüttung verursachen. Im Falle eines Durchbruchs würden die Wassermassen des Sares-Sees durch die engen Betten der Flüsse Murgab, Pjandsch und Bartang talwärts schießen - und damit, wie die UN-Forschungsgruppe "International Strategy for Disaster Reduction" in einem Forschungspapier warnt, "die wahrscheinlich tödlichste Naturkatastrophe der Menschheitsgeschichte" entfesseln. Geologen prognostizieren eine Überflutung weiter Teile Tadschikistans, Turkmenistans, Usbekistans und Afghanistans, bei der bis zu fünf Millionen Menschen ihr Obdach verlieren könnten. Oder ihr Leben, denn Evakuierungspläne für den Katastrophenfall existieren bisland nicht.
Alle Konzepte zur Gefahreneindämmung scheiterten bisher entweder an technischer Undurchführbarkeit oder an den geologischen Gegebenheiten, und auch Expeditionsleiter Juri Bajkowskij meint widerwillig: "Der bisherige Forschungsstand lässt eine befriedigende Lösung des Sares-Problems nicht zu." Dennoch konnte die Expedition wertvolle Beiträge zur kartographischen Erschließung des Geländes leisten, und zusammen mit dem tadschikischen Bergrettungsdienst wurden immerhin ein Frühwarnsystem und Ansätze zur Evakuierung der umliegenden Siedlungen erarbeitet.
"Das bemerkenswerte an unserer Expedition war vor allem die einmalige Zusammenarbeit zwischen Sportlern und Wissenschaftlern", glaubt Bajkowskij. Im Laufe der Erkundungstour hat sein Team knapp 2000 Kilometer in Geländewagen zurückgelegt, weitere 18 Kilometer unwegsamen Terrains per Esel-Karawane passiert, drei bislang unbekannte Berggipfel bestiegen und per Schlauchboot die Uferlinien des Sares-Sees und die umliegenden Flussläufe erkundet. Aus dem Videomaterial, das während der Expedition aufgezeichnet wurde, soll ein Dokumentarfilm entstehen, und Teile davon kann Bajkowskij heute schon zeigen. Ruhig weist er auf die haarfeine Linie hin, die zur Bruchstelle der Steilwand werden könnte. Die geologischen Fachausdrücke gehen ihm leicht von der Zunge, die Zahlen kennt er auswendig. Aber immer, wenn auf der Video-Leinwand eines der Schlauchboote eine besonders scharfe Flussbiegung gemeistert hat, immer wenn auf schneebedeckten Gipfeln die Fahne des Russischen Alpinisten-Vereins zu sehen ist, dann ist es wieder da, dieses Glühen in den Augen: der Blick eines Menschen, der viel zu erzählen hat.