Ukraine

Wie lebt Ihr mit dem Krieg?


Illustration: Anatoliy Belov

Yevgenia Belorusets

Die Splitter der Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen und diesen Jahres fügen sich nicht zu einem historischen Panorama. Sie lagern sich weiter aufeinander ab, und niemand kann es sich leisten, auf Abstand zu bleiben. Aus Protest und Krieg, die alle gemeinsam betreffen, erwächst so die persönliche Geschichte eines jeden einzelnen.


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Die letzte Folge der FAZ.NET-Serie „Stereoscope Ukraine“ ist der Frage gewidmet, wie unsere Autoren die Ereignisse sehen und durchleben.

Welche persönlichen Strategien helfen Euch, mit der entstandenen Situation und dem Krieg umzugehen?

Ivan Yakovina
„Zum neutralen Beobachter werden“


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Mit dem Krieg, der seit fast einem Jahr in der Ostukraine herrscht, kann ich mich einfach nicht abfinden. Ich bin einerseits ein in Moskau geborener Bürger Russlands und andererseits ein ethnischer Ukrainer, der in Lwiw (Lemberg) lebt und arbeitet. Meine Gefühle liegen ständig im Widerstreit miteinander. Um in dieser Situation nicht verrückt zu werden, musste ich auf größtmögliche Distanz gehen und zum neutralen Beobachter werden, der nur Fakten festhält.

Dennoch empfinde ich angesichts eines Frontverlaufs, der die Grenze zu Zerstörung und Tod markiert und sich zugleich mitten durch mein Bewusstsein zieht, ununterbrochen einen dumpfen Schmerz. Er wird erst wieder aufhören, wenn der Krieg ein Ende gefunden hat. Darauf wiederum ist nur zu hoffen, wenn der Mann entmachtet wird, dessen Ideen und Gelder den Krieg in erster Linie befeuern: Wladimir Putin. Zu diesem Menschen fällt mir, fürchte ich, kein gutes Wort mehr ein, und mein objektiver Blick versagt. In meiner zutiefst persönlichen Wahrnehmung ist er der Krieg, der unbedingt beendet werden muss, indem man die eigentliche Ursache des immer größeren Schmerzes beseitigt.

Ivan Yakovina ist ein Moskauer, der im westukrainischen Lwiw (Lemberg) lebt und in Kiew arbeitet. Er ist Auslandsredakteur und Analyst des Magazins „Nowoje Wremja“ und außerdem Leiter des Fernseh-Programms „Hromadske.tv auf Russisch“. Bis zum Frühjahr 2014 war er Redakteur beim unabhängigen russischen Internetmagazin lenta.ru. Er ging, als die Chefredakteurin entlassen wurde und das Magazin eine kremlnahe Leitung bekam.

Boris Chersonskij
„Sich selbst treu bleiben“


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Von außen betrachtet hat sich das Leben seit Beginn des Krieges wenig geändert. Die Last der Alltagssorgen ist gewachsen, aber nicht so, dass es einen in die Knie zwänge. Mein Tag läuft kaum anders ab als in Friedenszeiten. Meine Tätigkeiten – Unterrichten, Schriftstellerei, Psychotherapie - sind dieselben wie zuvor. Im Terminkalender stehen nicht weniger literarische Treffen und Reisen als 2013. Man hat das Jahr 1913 immer wieder als Vergleichspunkt herangezogen. Ob dies künftig wohl für das Jahr 2013 gelten wird?

Wenn es Veränderungen gegeben hat, so betreffen sie das Innenleben. Sie haben ein gewisses Grundgefühl von Sinnlosigkeit und Leere herbeigeführt. In Zeiten des Krieges scheint einem alles, was man tut, banal und weder für das Land noch für die Freunde noch für einen selbst wirklich von Nutzen. Zuweilen erliegt man der Illusion oder der gewohnheitsmäßigen Fortführung eines friedlichen, sinnvollen Lebens. Und noch etwas: Man begreift, dass die einzige mögliche Form des Widerstandes darin besteht, sich selbst treu zu bleiben - ein Widerstand, der aus dem schöpft, was den Menschen ausmacht.

Boris Chersonskij, Dichter und Arzt aus Odessa, war zu Sowjetzeiten ein wichtiger Vertreter des Samisdat. Für seine russischsprachige Lyrik erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, auch in Russland. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Gedichtband „Familienarchiv“ (Wieser 2011). Anfang Februar dieses Jahres explodierte vor seiner Wohnung eine Bombe, die unbekannte Attentäter dort deponiert hatten.

Olena Stepova
„Denen die Augen öffnen, die sich haben hypnotisieren lassen“


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Nach einem Jahr Krieg bin ich der verbrannten Steppe von Donezk ähnlich geworden. Aus zerstörter Landschaft richten sich meine Gedanken müde auf einen verrauchten Himmel. Dunkle Krater, Schützengräben, verbranntes technisches Gerät, Verrat, Schmerz, Angst und der Wunsch zu überleben: Das sind die Narben, die die Steppe davongetragen hat, und es sind auch die meinen.

Vor dem Krieg wohnte ich im Gebiet Luhansk. Der Krieg hat mir mein Zuhause und meine Arbeit genommen, meine Pläne radikal durchkreuzt und einen anderen Menschen aus mir gemacht. In einem Augenblick der Angst und Verzweiflung starb unter dem Donner russischer Grad-Raketen Elena Stepanez und wurde Olena Stepowa (die ukrainische Version meines Namens) geboren.

Meine (neuerliche) Geburt war mit dem Wunsch verbunden, meine Heimatregion gegen das Gift des russischen Chauvinismus zu verteidigen, der der Ukraine Mordgedanken eingeflüstert und sie zum Hass auf die Menschen im Donbass angestiftet hat. Jede Meldung, in der es hieß, dass „die Menschen im Donbass alle Verräter sind, die auf Seiten der DNR oder LNR kämpfen“, hat Europa und die Ukraine von den wahren Okkupanten abgelenkt.

Mit meinem Buch „Alles wird Ukraine oder Geschichten aus der Zone antiterroristischer Operationen“ habe ich gegen den Informationskrieg angeschrieben. Ich glaube, dass es mir gelungen ist, das wahre Gesicht des Gebietes Luhansk zu zeigen, das besetzt ist und das vor Kummer stöhnt.

Jetzt gehe ich den Krieg sozusagen noch einmal vom ersten Tag an durch und beschreibe alles, was geschehen ist, in dem Buch „Autobiographie des Krieges“. Es soll all denen die Augen öffnen, die sich von den Propagandisten haben hypnotisieren lassen und die dem süßlichen Gerede von einem „russischen Frieden“ erlegen sind. Mein Kampf für den Donbass ist noch lange nicht zu Ende.

Olena Stepova nannte sich vor dem Krieg noch russisch Jelena Stepanez. Sie lebt in Swerdlowsk, einer Stadt im Gebiet Luhansk. Seit Ausbruch des Krieges im Donbass betreibt sie mehrere Blogs, in denen sie ihre Beobachtungen über Stimmung und Befindlichkeiten der Menschen in der Ostukraine mitteilt.

Oleksandra Dvoretskaya
„Etwas tun“


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Die Notwendigkeit, auf die Okkupation der Krim zu reagieren, bestand für mich ab dem 15. März 2014. An diesem Tag verspürte ich erstmals den Drang zum Widerstand. Genau an diesem Tag tauchten Vertreter der sogenannten „Selbstschutzeinheiten“ der Krim in der Wohnung in Simferopol auf, in der ich gelebt hatte, aus der ich rechtzeitig geflohen war und in der sich zu diesem Zeitpunkt noch mit mir befreundete Journalisten aufhielten.

Per Webkanal und Stream sah ich mit an, wie meine Freunde aus meiner Wohnung vertrieben wurden. Am selben Abend hielt ich telefonisch Kontakt mit mir bekannten Aktivisten aus Sewastopol, deren Wohnungstüren man aufgebrochen hatte. Sie wurden damals gefangen genommen und nach Schlägen und Verhören 24 Stunden später wieder freigelassen. Erstmals spürte ich am eigenen Leib die Bedeutung der Redensart „vor Zorn mit den Zähnen knirschen“ – mir schmerzten die Kiefer davon. Ich befand mich bereits in Kiew. Und ich konnte nicht mehr einschlafen.

Heute koordiniere ich die Arbeit der Initiative „Wostok-SOS“, die Binnenflüchtlinge aus der Krim oder der Donbass-Region unterstützt. Bisher konnten wir schon mehr als 20.000 Menschen helfen. Im April wird mein Sohn zur Welt kommen. Wie viele Krim-Tataren halte ich eine Rückkehr auf die Krim nur für möglich, wenn wir alles dafür tun, was wir irgend können.

Oleksandra Dvoretskaya ist eine Menschenrechtlerin aus Simferopol auf der Krim. Im März 2014 flüchtete sie nach Kiew. Dort arbeitet sie derzeit als Koordinatorin bei der Organisation „Wostok SOS“, die sich um ukrainische Binnenflüchtlinge kümmert.

Roman Dubasevych
„Hoffnung in der Musik schöpfen“


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Als die Ereignisse auf dem Maidan begannen, hörte ich wie viele meiner Landsleute ständig Nachrichten. Dabei wuchs meine innere Anspannung, je weiter ich vom Ort des Geschehens entfernt war. Eine gewisse Erleichterung verschafften mir lediglich gemeinsame Aktionen, wie Demonstrationen in Berlin und Wien oder das Sammeln von Spenden. So ließ sich der nicht enden wollenden Sorge und Ohnmacht wenigstens etwas entgegensetzen. Gestärkt hat mich die beispiellose Mischung all der wunderbaren Menschen, die sich in die Reihen der Demonstranten stellten: Studenten, IT-Spezialisten, Hausfrauen, Personen verschiedenen Alters und sogar Vertreter des diplomatischen Corps.

Bei allem Engagement überfiel mich aber auch Erschöpfung. Unerwartet zog es mich in Museen, überließ ich mich der Faszination der Musik. Ich begriff auf einmal, warum die Menschen auch schon in früheren Kriegen selbst in ungeheizten Sälen Konzerten gelauscht haben. Zu meinen stärksten Eindrücken gehört ein Konzert mit Musik von George Gershwin in der Philharmonie Lwiw, das drei Tage vor den blutigen Schüssen auf dem Maidan stattfand. Ich besuchte es zusammen mit einem Freund aus der Schweiz, der mir auf dem Höhepunkt des Konzerts zuflüsterte: „Diese Musik ist so großartig, dass mir scheint, sie könnte jeder Gewalt Einhalt gebieten“. Und auch wenn die Moderatorin die jüdische Herkunft Geshwins „diskret“ verschwieg und nur vage von Motiven aus der amerikanischen Folklore sprach, stieg damals in mir eine Hoffnung auf: Die Hoffnung, dass dieser zu Ehren Gershwins überfüllte Saal in Lwiw früher oder später der Ukraine helfen werde, das Gift des Blutvergießens zu überwinden. Selbst die folgende Explosion der Gewalt und der Krieg konnten diese Hoffnung nicht erschüttern.

Roman Dubasevych, Kulturwissenschaftler aus Lwiw (Lemberg), hat in Regensburg und Greifswald studiert und derzeit eine Vertretungsprofessur an der Universität Greifswald inne. Er beschäftigt sich unter anderem mit Erinnerungskultur und Postmoderne.

Aus dem Russischen von Andrea Gotzes, n-ost


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