Die halbfertige Krim
Die beiden Arbeiter haben mit seiner linken Wade begonnen und sich bis zum Oberschenkel hochgearbeitet. Dann haben sie an der rechten Schulter weitergemacht. Sie haben Wladimir Iljitschs Körperteile mit Hämmern traktiert und mit Schleifmaschinen abgerieben. Der Dreck der Jahre, der sich wie eine zweite Haut auf die Glieder des Sowjetführers gelegt hat, diese schwarzbraune Mischung aus Erde und Abgasen, bröckelt ihm vom Leib. Darunter erscheint ein Lenin, der strahlt und blendet, ein bronzener Lenin, zumindest am linken Bein und auf der rechten Schulter und bald auch bis zum Kopf. Dann ist er wieder so, wie er war, als man ihm hier 1967 ein Denkmal gesetzt hat.
Während in der Ukraine unter der Devise des „Leninopads“ die Denkmäler des Sowjetführers reihenweise vom Sockel fallen, wird in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, das Lenindenkmal am Leninplatz generalsaniert. Bis zum 16. März muss es fertig werden.
Dann ist es ein Jahr her, dass die Krim-Bewohner in einem international nicht anerkannten Referendum für den Anschluss an Russland stimmten, eine so eindeutige wie umstrittene Wahl des Volkes. Es segnete eine Machtübernahme ab, die zuvor mit Hilfe einer Truppe namens „Selbstverteidigung der Krim“, russischen Soldaten und prorussischen Kräften im Regionalparlament vorbereitet worden war. In Simferopol lag Angst in der Luft, man sprach von faschistischen Schlägertrupps aus Kiew, die freilich nie gesichtet wurden, und bald schon löste sich die vermeintliche Bedrohung in prorussischen Jubel auf.
„Territorium ohne Zukunft“
Die Krim ein Jahr nach der Annexion: Für Russland ist die Halbinsel eine Teilrepublik der Föderation geworden, eine von 22. Statt Annexion spricht man von Wiedervereinigung. Die Ukraine nennt es Besatzung und will die Halbinsel zurückgewinnen; unklar ist, wie. Für die internationale Gemeinschaft ist die Krim zum Niemandsland geworden, das unter Sanktionen steht. Ein „Territorium ohne Zukunft“, wie ein Universitätsabsolvent in Simferopol desillusioniert sagt, abgeschnitten vom internationalen Mobilfunknetz, von Zahlungsverkehr und Verkehrswegen.
Die meisten der auf der Krim verbliebenen Bürger stehen freilich hinter ihrem Votum. Verstörend bleibt der Gestus, mit dem die Wahl des Volkes vorgetragen wird. Gegenüber Unbekannten erlaubt man sich keine Zwischentöne. „Wir sind ja so zufrieden“, erklärt eine 70-Jährige mit zerfurchtem Gesicht, die zur Aufbesserung ihrer Pension Taschen in einer Unterführung verkauft, die nach Leder aussehen und aus Plastik sind.
Dieses erste russische Jahr werden die Krim-Bürger als das Jahr der langen Schlangen in Erinnerung behalten. Sie standen in der Schlange für neue Pässe, neue Autonummern, für die Sozialversicherung, den Gesundheitsausweis und die Neuregistrierung ihrer Firmen. Es gab Monate der Euphorie, als die Pensionen erhöht wurden. Und Monate der Ernüchterung, als die Preise stiegen. Löhne wie in Moskau wurden ihnen versprochen, Preise wie in Moskau haben sie bekommen. Heute bleibt einem Arbeitnehmer etwa gleich viel übrig wie früher.
Kein tiefgreifender Wandel
Es war ein Jahr im permanenten Übergang. Auf den Straßen der Krim fahren noch immer geschätzte vier von zehn Autos mit ukrainischen Kennzeichen, dafür haben sich viele hier russische Zweitpässe zugelegt, sonst wird das Leben zur Qual. Der große Umbau hat nicht stattgefunden, die Perestrojka ist ins Stocken geraten. Denn Russland ist in die Krise gerutscht und muss haushalten.
„Die Euphorie über den russischen Frühling war kurz, der Aufbau eines neuen Staates dauert länger“, sagt eine Frau, die an der Universität Simferopol im Bereich Humanwissenschaften lehrt. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, sie fürchtet ihre Entlassung. Das, was sie über ihren Arbeitsplatz erzählt, hinterlässt nicht den Eindruck eines tiefgreifenden Wandels. Ja, die Einrichtung wurde umbenannt, aus der Nationalen Universität wurde eine föderale unter russischer Flagge, ein neuer Rektor ist im Amt, Moskau schickt neue Dokumente, stapelweise.
Der Lehrplan aber habe sich kaum verändert. Wieder werde das Kollegium von der Leitung ermahnt, in den sozialen Medien nur ja keine politischen Kommentare abzugeben. Meinungsfreiheit habe man hier nie sehr hoch gehalten, sagt die Frau trocken. „Meine Kollegen hatten in der Sowjetunion Angst, sie hatten in der Ukraine Angst und sie haben sie jetzt noch immer.“
Sehnsucht nach dem Einst
„Krim nasch“, „Die Krim gehört uns“, triumphierte Russland vor einem Jahr. „Wir bauen die russische Krim auf“ steht auf einer Häuserwand in Simferopol. Präsident Wladimir Putins Führung – sie soll für Ordnung statt Chaos, Kontrolle statt Korruption, Strafen statt Schleifenlassen stehen.
„Wer die neue Krim sehen will, muss nach Sewastopol“, das sagt Taxifahrer Jura, 38. Hier kann die Krim endlich so russisch sein, wie sie es schon immer sein wollte. Am Hafenbecken rockt eine Band zu Ehren der Vaterlandsverteidiger. Mitglieder von Spezialeinheiten, Matrosen und Neurussland-Kämpfer flanieren über die Uferpromenade. „Nichts verkauft sich so gut wie sie“, sagt die Verkäuferin und deutet auf einen Stapel mit Putin-T-Shirts.
Mittendrin zwischen den Menschen also Jura, ein Taxifahrer mit zwei Universitätsabschlüssen. Auf der russischen Krim hofft er, dass ihm endlich das gelingt, was in der Ukraine nie geklappt hat: eine richtige Arbeit zu finden. Jura, dieser gedrungene Mann mit Lederjacke und Igelfrisur, hat in seinem Leben schon alles Mögliche gemacht, nur in seinen Spezialgebieten Elektrotechnik und Ökonomie hat er nie gearbeitet. Er hat mit seinen 38 Jahren länger in der Ukraine gelebt als in der Sowjetunion, und dennoch brennt in ihm diese Sehnsucht nach dem Einst.
Das Gedenken an die Großväter, wie es in Sewastopol zelebriert wird, die Ehrung Lenins, wie sie in Simferopol bald ansteht, das alles gefällt ihm. Jura hofft nun, dass aus der Krim bald ein russisches Land wird. Einen anderen Job als das Taxifahren hat er auch in diesem Jahr nicht gefunden, aber, so sagt er, er habe wieder Hoffnung. Die Perestrojka der Krim ist noch lange nicht vorüber.