Bürgerfrühling in Bosnien?
„Wir sind hungrig in drei Sprachen!“ Mit dieser Losung demonstriert eine bunte Mischung aus Arbeitslosen, Geschäftsleuten, Veteranen und Studenten im Februar 2014 gegen die schlechte Wirtschaftslage, eine Arbeitslosigkeit von über 40 Prozent und die damit einhergehende Verarmung der Bevölkerung. Für den multiethnischen Staat Bosnien kommt das einer kleinen Sensation gleich: Die Proteste richten sich nicht nur gegen amtierende Regierungen auf regionaler und überregionaler Ebene.
Die Demonstranten wehren sich auch gegen eine nationalistische Vereinnahmung, mit der in Bosnien nur allzu oft Politik gemacht wird. Und obwohl die Stimmung zwischenzeitlich kippt und auch Regierungsgebäude brennen, machen sie später friedlich weiter – und verwandeln sich in eine Bewegung für direkte Demokratie, die nicht nur internationale Medien hoffnungsvoll „Bosnischer Frühling“ nennen.
Anders als ihre Gegner: „Um ihrer Geringschätzung Ausdruck zu verleihen, tauften uns einzelne Politiker am Anfang der Februarproteste 2014 „bagra“, also Abschaum, Nichts“, schreibt der Herausgeber Damir Arsenijevic in dem im Januar erschienenen Sammelband zu den Protesten. Zu diesem „Nichts“ zählen sich auch die 21 Autoren des Buches „Unbribable Bosnia and Herzegovina“, ,Unbestechliches Bosnien und Herzegowina‘. Alle haben sich bei den Protesten stark engagiert. Jetzt reflektieren sie in ihren Texten, was sie als Prüfstein für künftige Rebellionen verstanden wissen wollen: Den Kampf um Gemeingüter und die Möglichkeit, politische Entscheidungen zu beeinflussen.
20 Jahre Misswirtschaft und Selbstbedienung
Dass diese Forderungen in dem südosteuropäischen Land keine Selbstverständlichkeit sind, machen zwei ehemalige Angestellte der Fabriken Dita und Polihem zu Beginn des Buches klar. Wie viele Unternehmen werden beide Betriebe aus Tuzla ab 1994 in Staatseigentum umgewandelt, wenig später folgt die Privatisierung. Damit einhergehen eine Reihe von Investitionen, Übernahmen, Rückkäufen und Kreditaufnahmen, am Ende steht der Bankrott. Während die Produktion noch läuft, bleiben die Arbeitgeber ihren Angestellten Gehälter und Sozialbeiträge schuldig, berichtet die Gewerkschafterin Emina Busuladzic: „ Unseren Streik haben wir am 24. August 2011 begonnen … Zu dieser Zeit waren sie mit sieben Monatsgehältern sowie 22 Monaten Rente und Krankenversicherung im Rückstand.“
Um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, verschulden sich viele Arbeiter in dieser Zeit aus Angst vor der Arbeitslosigkeit. Eine Beilegung des Konflikts wird bis 2014 nicht gelingen: Erfolgreiche Klagen der Arbeiter vor Gericht werden nicht wirksam; Beschwerden und Protesten begegnet die Kantonsregierung in Tuzla entweder mit Stillschweigen oder Versprechen, die sie danach wieder bricht.
Kein lokales Problem
Was zunächst wie ein Wirtschaftskrimi auf lokaler Ebene daherkommt, spiegelt sich in der gesamten Föderation Bosnien und Herzegowina wieder und zieht sich als roter Faden durch jedes Essay. Ausschreibungen für öffentliche Stellen werden so abgestimmt, dass nur der Wunschkandidat in Frage kommt, Gewerkschaften verurteilen den Streik der eigenen Mitglieder: Es sind diese Innenansichten auf die bosnische Politik, die den Sammelband lesenswert machen. Die Not und der Frust, die im Februar 2014 Regierungsgebäude in Flammen aufgehen ließen, sind nachvollziehbar. „Ein symbolischer Akt der Befreiung“, wie der Journalist Haris Husarić an einer Stelle trotzig festhält.
Das man sich an vielen Stellen dennoch durch den Sammelband kämpfen muss, liegt nicht nur daran, dass fast jeder Autor detailliert auf die Begleitumstände und die soziale Ausgangslage eingeht. Die Aktivistinnen werden auch nicht müde zu betonen, welche Chance die Proteste für Bosnien und Herzegowina darstellen, trotz aller gegenwärtiger Enttäuschung. In aller Regel ist das einfach überflüssig. Wie ein Mantra werden viele Punkte verstörend einmütig wiederholt:
Wir und sie: Eine Selbstbefreiung
Während eine korrumpierte politische Elite ihre Entscheidungen aus parteiinterner und ethnischer Sympathie trifft, schauen die Vereinten Nationen und ihr Stellvertreter in Bosnien-Herzegowina dem Treiben einfach zu. Ihre Aufgabe besteht darin, Amtsträger zu entlassen, Gesetze zu verabschieden, kurz, das Friedensabkommen von Dayton zu überwachen, Pflichten die sie nicht wahrnehmen. Dringende Reformen scheitern an beiden Seiten.
Die Aktivistinnen suchen und finden den Ausweg aus dieser Politik des institutionalisierten „Man-kann-nichts-ändern-deswegen-muss-man-auch-nichts-ändern“ in Plenen und anderen Formen direkter Demokratie. Sie widersprechen sowohl internationalen Medien, wenn diese die Proteste als neue Revolution bezeichnen, als auch lokalen, die das Aufbegehren als Akt des Terrorismus verdammen. Sie bilden eine Bewegung, die die ethnische Teilung durchbrechen und gegen Politikverdrossenheit kämpfen will.
Programmatik vor Anschaulichkeit und Information
Trotz aller verständlichen und teils exzellenten Argumentationen will es dem Buch nicht so recht gelingen, den Leser zu fesseln. Zwar gewährt es eine andere Sicht auf den Aufstand und räumt auf mit dem Bild eines in Lethargie gefangenen Landes. Ein Massenpublikum wird es sich allerdings kaum erschließen: Viele Namen muss der Uneingeweihte selbst ergoogeln. Eine Straffung würde den Texten gut tun, genauso wie ein Überblick zu den Ereignissen im Februar und einige Fakten zur wirtschaftlichen Lage. Besonders schade aber ist, dass persönliche Schilderungen und Motive ein Schattendasein fristen. Beschwörung und Interpretation der Protestbewegung verdecken die Erlebnisse der Autoren. So bleibt eine Frage bis zum Schluss unbeantwortet: Auf welchem Weg soll soviel Enthusiasmus das Land langfristig verändern?