Ukraine

Der Maidan ist noch nicht vorbei

Wenn Alina Kropatschowa die Institutska-Straße in Kiew entlang läuft, holen sie die Erinnerungen ein. Dann sieht die Studentin Menschen blutend auf dem Weg liegen und Molotowcocktails auf dem Asphalt zersplittern. Wo heute Grabkerzen flackern und Kränze die Straße schmücken, wusch Kropatschowa vor einem Jahr Demonstranten Tränengas aus den Augen. „Ich habe damals gegen Janukowitsch demonstriert, weil er meiner Generation die Zukunft rauben wollte“, sagt die 22-Jährige. Und die liege für Kropatschowa in Europa, nicht in Russland.

Ein paar Häuserblocks weiter huscht die Studentin eine Kellertreppe hinunter. „Nachtwache“, steht auf einer Eisentür geschrieben. An den weiß getünchten Wänden hängen Bauarbeiterhelme, mit denen sich Maidan-Kämpfer vor Polizeiknüppeln schützten. Fotos zeigen brennende Autoreifen und Straßenbarrikaden. In der „Nachtwache“ organisieren Aktivisten noch immer Konzerte, lesen Schriftsteller aus ihren Büchern und diskutieren Studenten über die Zukunft der Ukraine.


Reformen bleiben auf der Strecke

„Wir haben unsere Ziele noch nicht erreicht“, sagt Iwan Kukurudsak, der vor einem Jahr auf dem Maidan demonstrierte. Zwar sei die Ukraine ein Stück nach Westen gerückt. „Doch heute stehen wir vor viel größeren Problemen“, fügt er hinzu.

Und damit meint er nicht nur die unmittelbaren Folgen des Krieges im Osten des Landes, der bereits Zehntausenden Ukrainern das Leben gekostet hat. Der zermürbende Konflikt blockiert auch die Zukunft des Landes. „Alles konzentriert sich auf den Krieg, Reformen bleiben auf der Strecke“, sagt der 26-Jährige. Zudem haben die Ukrainer jeden Monat weniger Geld in den Taschen.

Der Krieg in der Ostukraine verschlingt laut Premierminister Arseni Jazenjuk pro Tag mindestens fünf Millionen Dollar. Die Landeswährung Griwna hat gegenüber dem Dollar mehr als das Doppelte an Wert verloren. Die Inflation treibt Preise für Lebensmittel, Heizung und Gas in die Höhe. Kürzlich verdoppelten sich in Kiew die Tarife für U-Bahn, Busse und Straßenbahnen. „Das haben wir Putin zu verdanken“, glaubt Student Kukurudsak.


Todesschüsse werden nicht aufgeklärt

Dennoch dürfe man nicht alle Probleme auf den Krieg schieben, erwidert Aktivistin Kropatschowa. Sie beklagt, dass die Todesschüsse vom Maidan nicht aufgeklärt werden. Unweit der „Nachtwache“ wurden vor einem Jahr mehr als 80 Menschen von Heckenschützen ermordet. Rechtsanwälte und Familien der Opfer werfen den Behörden Untätigkeit vor. Zwar entließ das Parlament in der vergangenen Woche Oberstaatsanwalt Vitali Jarema, der die Morde aufklären sollte. Kropatschowa bezweifelt allerdings, dass sein Nachfolger Licht ins Dunkel bringen wird. „Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, wer geschossen hat“, sagt sie.

Und auch auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, sei der Geist der Revolution verflogen. Auf dem Platz trieben sich Militante in Tarnuniformen herum, klagen viele Kiewer. Die Männer gehören weder der Maidan-Bewegung an noch unterstehen sie der Polizei. Einige ließen sich in Cafés kostenlos bewirten oder würden Budenbesitzer um Geld erpressen, berichten Anwohner. „Diese Leute haben mit dem Maidan nichts zu tun“, meint Kropatschowa und appelliert an die Polizei, auf dem Platz durchzugreifen.

Während der Maidan-Revolution organisierten Aktivisten wie Kropatschowa nachts Konzerte auf dem Unabhängigkeitsplatz – daher auch der Name „Nachtwache“. „Wir haben dafür gesorgt, dass die Demonstranten die Nacht durchhalten“, erklärt Student Kukurudsak. Schließlich sollte die Polizei daran gehindert werden, den Platz zu räumen, während die Aktivisten schliefen. Iwan Kukurudsak betreute damals die Sängerin Ruslana, die 2004 den Eurovision Song Contest gewann und den Demonstranten von der Bühne aus Mut zusprach. Der Keller, in dem sich die Aktivisten treffen, gehört der Ärztin Olga Bogomolez. Sie versorgte auf dem Maidan zahlreiche Verletzte und überlässt die Räume den Studenten kostenlos.

„Putin, fuck you“, steht auf der Kaffeetasse

In der „Nachtwache“ sitzt Jewgenia Nasarenko vor dem Computer – blonde Haare, schwarzer Pulli, Jeans. Der Krieg habe ihre Familie entzweit, erzählt die 25-Jährige. Ihr Onkel und ihre Cousine wohnen in Donezk und unterstützen die Separatisten. Kürzlich habe sich ihre Cousine sogar mit einem bewaffneten Rebellen angefreundet, „was mich natürlich sehr stört“, sagt sie. Nasarenko gießt sich einen Kaffee ein. „Putin, fuck you“, steht auf der Tasse.

„Wir setzen den russischen Präsidenten nicht mit seinem Volk gleich“, sagt Aktivist Iwan Kukurudsak. Die Gruppe habe Freunde in Moskau, die im Sommer verhaftet wurden, weil sie gegen den Krieg demonstrierten. Die Aktivisten der „Nachtwache“ sprechen sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Wichtiger sei humanitäre Hilfe,und dass das Land bald wieder auf die Beine kommt.


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