Ukraine

Die Sache mit der Erinnerung

Kiew nimmt sich ein ehrgeiziges Projekt vor: Ein Maidan-Denkmal soll gebaut und die Innenstadt großflächig umgestaltet werden. Über den Sieger darf die ukrainische Bevölkerung mitentscheiden. Unmittelbar nach der Eskalation der Proteste auf dem Maidan im Februar 2014 erhielt Sergij Tselovalnik, Chef der Kiewer Stadtplanung, viele Vorschläge für ein Denkmal – gewidmet jenen Menschen, die bei den Demonstrationen zu Tode kamen.

Tselovalnik wollte allerdings weder vorschnell handeln, noch dem Druck von Interessengruppen nachgeben: „Das Problem war, wem genau ein Denkmal gesetzt werden soll“, sagt er. „Den erschossenen Demonstranten oder allen Opfern auf beiden Seiten?“ Viele Freiwillige halfen der Stadtverwaltung bei der Durchführung von Befragungen. Nach der Auswertung wurde entschieden, das Denkmal allen Todesopfern der Unruhen zu widmen und einen internationalen Wettbewerb in vier Kategorien auszuschreiben: Geplant sind ein Denkmal, die Umgestaltung des Stadtkerns sowie ein Maidan-Museum und ein internationales Kulturzentrum.

478 Personen und Architekturbüros registrierten sich zum Wettbewerb. „Wir haben Teilnehmer aus der ganzen Welt. Unter anderem die weltberühmte Architektin Zaha Hadid“, so der Stadtplanungschef. Die Bewerbungen werden bis Ende Februar anonym eingereicht, danach entscheiden eine Expertenjury sowie öffentliche Befragungen über den Sieger. Die Vorschläge werden in einer Wanderausstellung in Dnipropetrowsk, Charkiw, Odessa und Lemberg präsentiert.


Erinnerung braucht Zeit

Eventuell müssen bestehende Bauwerke den Vorschlägen der Architekten Platz machen. Tselovalnik sieht darin allerdings kein Problem. „Vieles, was in letzter Zeit gebaut wurde, kann man sowieso vergessen“, befindet er. Der Stadtplaner sieht in dem Projekt nicht nur eine längst überfällige Modernisierung der Innenstadt – weg von leuchtenden Werbetafeln, Kiosken und schmutzigen Plätzen – sondern auch einen konkreten Beitrag zu einem funktionierenden Staat. Man zeige so, dass in Kiew keine „Junta“ herrsche, sondern, dass eine vernünftige und neue Politik unter Beteiligung der Öffentlichkeit möglich sei. Insofern sei das Projekt – besonders in den Zeiten des Krieges in der Ostukraine – ein Beitrag zum Frieden und zur Einheit des Landes, ist sich der Stadtplanungschef sicher.

Der ukrainische Künstler Nikita Kadan sieht das Vorhaben hingegen weitaus kritischer. Der Abstand zu den Ereignissen sei noch viel zu gering, um angemessen damit umzugehen. „Die Kunst ist momentan ohnmächtig“, sagt Kadan. Man dürfe die Erschossenen nicht zu Heiligen verklären, sondern müsse ihr Handeln in einen verstehbaren Zusammenhang setzen – und das brauche eben Zeit. „Es ist wichtiger, die auf dem Maidan entstandene Kunst zu archivieren, statt jetzt schon ein Denkmal zu bauen“, so Kadan weiter.

Ähnlich sehen das auch andere Kiewer Kreative: Der Filmstudent Oleksij Vovk und Fotograf Yevgen Kotenko halten wenig vom Architekturwettbewerb. Die beiden Kiewer sind enttäuscht, dass die Revolution noch nicht das gebracht hat, was sie sich erhofft hatten. „Ein Denkmal ist toll, aber wir wollen zunächst einmal normal leben. Ohne Korruption etwa“, sagt Vovk.


Zwielichtige Bauprojekte

Ferner ist der Stadtplaner Tselovalnik für sie kein unbeschriebenes Blatt – steht er doch, wie viele andere Beamte und Politiker, mehr für ein Fortbestehen des alten Systems als für eine echte Erneuerung. Vovk und Kotenko erzählen von diversen Orten, an denen die Stadt in den letzten Jahren zwielichtige Bauprojekte genehmigte. Dass die Öffentlichkeit in den neuen Wettbewerb einbezogen werden soll, halten die beiden für Augenwischerei.

Entgegen der Absicht der Organisatoren entwickelt sich der Wettbewerb in der Bevölkerung zu einer politischen Frage. Einig ist man sich einzig darin, dass der Maidan kein Friedhof sein soll. Noch heute säumen Blumen und Kerzen die Gegend rund um den Unabhängigkeitsplatz. Auch monomentale, heroische Denkmäler nach sowjetischer Art aus Mamor und Granit lehnen die Bürger mehrheitlich ab.

Eine ganz andere Idee bringt die 29-jährige Yaroslava Rozhenko ins Spiel. Sie hat vor den Protesten in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und erzählt von einem Erschossenen, der aus Ivano-Frankiwsk stammt. Dort hätten die Nachbarn Geld gesammelt und umsonst gearbeitet, um der hinterbliebenen Familie ein Haus zu bauen. „Für seine Frau und die drei Kinder ist das sicher das wichtigste Denkmal“, sagt Rozhenko.


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