Hauptsache weg
Die Autofahrt vom kosovarischen Parlament zum Busbahnhof in Pristina dauert weniger als zehn Minuten. Der Weg führt die George-Bush-Straße entlang, dann biegt man in den Bill Clinton-Boulevard ein. Zum Dank für die Hilfe im Kosovokrieg wurde dem US-Präsidenten eine Statue errichtet. Clinton grüßt die Kosovaren mit erhobener Hand und einem breiten Lächeln, so, als würde er sie dazu einladen, Teil der westlichen Wohlstandsgesellschaft zu werden.
Der Unabhängigkeitskrieg gegen das Regime von Slobodan Milosevic liegt nun 15 Jahre zurück, seit sieben Jahren ist Kosovo unabhängig. Festtageslaune kommt am Jahrestag jedoch nicht auf. Kosovo ist das Armenhaus Europas. Nur 500 Meter von der Bill-Clinton-Statue entfernt, am Busbahnhof, glauben die Menschen nicht mehr an das Versprechen, das Clinton ihnen vor 15 Jahren gab. Drei junge Männer warten auf ihren Bus und erklären: „Wir wollen nach Italien, Deutschland oder in die Niederlande. Hauptsache weg“.
Kein Asyl? Völlig egal.
Vom Busbahnhof in Pristina fahren derzeit Tausende Kosovaren nach Serbien. Sie wollen von dort über die Grenze nach Ungarn gelangen, in die EU. Die ungarische Botschaft in Pristina schätzt, dass bis zu 60.000 Kosovo-Albaner sich derzeit in Ungarn aufhalten. Manche versuchen auf gut Glück über die grüne Grenze zu laufen, andere bezahlen Schlepper, die sie über die Grenze bringen. Ein Stehplatz für die nächtliche Überfahrt in einem VW-Transporter kostet rund 250 Euro. Danach fahren die Kosovaren mit öffentlichen Verkehrsmitteln weiter nach Wien oder München.
Am Bussteig könnte man meinen, man sei bereits in Hannover: Überall sprechen die Menschen hier gutes Deutsch. Viele von ihnen haben als Gastarbeiter oder Kriegsflüchtlinge schon in Deutschland, Österreich und der Schweiz gelebt. Andere versuchen nicht zum ersten Mal, in diese Länder einzureisen. Die Menschen hier wissen, dass sie keine Chance haben, einen offiziellen Asylstatus zu erhalten. Es ist ihnen egal.
Weniger als 1,10 Euro pro Tag zum Leben
Ein Drittel der Bevölkerung in Kosovo lebt in absoluter Armut, also von weniger als 1,10 Euro am Tag. Zwei von drei Jugendlichen sind arbeitslos. Viele kommen nur dank Rücküberweisungen von Verwandten in Westeuropa über die Runden. In den vergangenen Jahren kamen vor allem Roma und die ganz Armen nach Deutschland, um Asylanträge zu stellen. Nun verlässt auch die Mittelschicht das Land.
Vala Mulliqi studiert Jura an der Universität von Pristina und hat noch ein Jahr bis zu ihrem Examen. Trotzdem überlegt sie, das Studium zu schmeißen und Kosovo zu verlassen: „Ich kann hier meinen Abschluss machen, aber das bringt nichts. Hier werde ich keine Arbeit finden. Es wäre sinnvoller, nach Österreich zu gehen und mein Studium von vorne zu beginnen“, sagt die Studentin.
Kosovo ist nicht nur das jüngste Land Europas, sondern auch das Land mit der jüngsten Bevölkerung in Europa. Trotz des anhaltenden Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre fehlt es an Arbeitsplätzen. Die Jugend sieht keine Chancen – auch, weil Jobs nach Parteibuch und Kontakten vergeben werden und nicht nach Qualifikation.
Pässe gibt es in Serbien
Nach den Parlamentswahlen im vergangenen Juni herrschte im Kosovo ein halbes Jahr lang politischer Stillstand, bis die neue Regierung schließlich im Dezember ihre Arbeit aufnahm. Sechs Wochen später begannen bereits Proteste. Die Jugend kommentiert die Regierungsbildung auf zweierlei Arten: Die einen werfen mit Steinen gegen das Parlament und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die anderen verlassen das Land.
Die kosovarische Präsidentin Atifete Jahjaga besuchte vor zwei Wochen eine Schule in Vushtria, etwa 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt Pristina. In den vergangenen Wochen verließen allein 440 Schüler das Land. „Weggehen ist keine Lösung“, sagte Jahjaga und bat die Menschen, zu bleiben und an der Situation im Land zu arbeiten.
Laut dem serbischen Innenministerium liegen derzeit 60.000 Passanträge aus dem Kosovo vor. Weil Serbien das Kosovo weiterhin als sein Staatsgebiet betrachtet, können Kosovo-Albaner einen serbischen Pass beantragen, mit dem sie legal in die EU einreisen können. Die kosovarische Journalistin Una Hajdari kommentiert dieses Phänomen mit den Worten: „Wenn Kosovo-Albaner sich sieben Jahre nach der Unabhängigkeit wieder serbische Pässe holen, um hier raus zu kommen, dann gibt es nichts, was sie hier noch halten kann.“
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Quellen:
http://data.worldbank.org/country/kosovo
http://www.bamf.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/20150209-0002-pressemitteilung-bmi-asylzahlen-januar.html
http://www.ostpol.de/beitrag/4204-ausschreitungen_in_pristina
http://www.balkaninsight.com/en/article/kosovo-migrants-leave-the-country-in-thousands