Heidnische Tänze im Schafsfell
Das Hauptprinzip des Karnevals, so erkannte der russiche Literaturtheoretiker Michail Bachtin in seinem Buch über Rabelais, sei die Vertauschung von Kategorien: „Getrenntes vereinen, Fremdes annähern, die Zunichtemachung jeglicher Abgeschlossenheit“. Es gehe immer auch um Zerstörung, um Aufruhr, um das Aufdecken von Energien, die ihm Alltag verborgen blieben. Statt braver, ruhigstellender Medien-Jeckerei, statt marschierender Funkemariechen findet man im südungarischen Mohács, einer Grenzstadt zu Kroatien an der Donau, wo 1991 aufgrund des Embargos zu Jugoslawien Hunderte von Schiffen festhingen, noch all diese, all jene urtümliche Ausgelassenheit.
Hier hat der Karneval nichts von seiner wilden Energie verloren. Hier wird seit Jahrhunderten an jedem siebten Sonntag vor Ostern der sogenannte Busójáras gefeiert, dessen Ursprünge nicht ganz geklärt sind. Die Männer der Stadt hängen sich Schafsfelle um, die an Hirtentracht erinnern, setzen sich mit Widderhörnern gekrönte Holzfratzen auf, die früher mit Tierblut eingefärbt wurden. Mit Holzrasseln und Kuhglocken ziehen sie lärmend durch die Stadt, mischen sich unter die Schaulustigen und belästigen am liebsten Frauen und junge Mädchen.
„Ich fahre jedes Jahr hierher“, sagt Edina Rauscher, ungarische Studentin aus der benachbarten Unistadt Pécs. Völlig überfüllte Busse karren zu Tausenden Besucher aus den benachbarten Dörfern zum Karneval. Das Busticket kostet für Studenten und Rentner 1, 50 Euro, das Doppelte für alle anderen. Es geht um ein richtiges Volksfest. Edina hat sich schöne Spängchen in die Haare gesteckt und trägt eine elegante Tasche, die kurze Frisur ihrer Freundin ist heute besonders sorgfältig gestylt. Alle stehen eng gedrängt, aus dem Radio dudelt irgendein Rocksong und die Luft ist feucht-stickig. Und die Stimmung gut. Der Bus schaukelt durch das noch leicht winterliche Südungarn, eine hügelige Landschaft mit verstreut liegenden Höfen, gepflügten Äckern, auf denen noch helle Schneeflecken zu erkennen sind. Heute ist es schon sehr warm, die Felder dampfen. Etwas Bedrohliches hängt in der Luft.
Seit dem Vormittag sind die Straßen in Mohács belebt. An kleinen Ständen werden Süßigkeiten verkauft: türkischer Honig, gezuckerte Hefekringel, Lebkuchen. Es gibt Filzkappen, Steingutwaren, Ledergürtel und natürlich die Felle und Masken der Busós, sprich „Buschos“. Auf dem Marktplatz mit ehemaliger Moschee – heute eine katholische Kirche – spielen Volksmusikgruppen zum Tanz. Das kennt man, das ist nicht Besonderes.
Gegen Mittag geht es dann los und es gibt kein Halten mehr. Von der 25 km langen Margitta-Insel auf der Donau setzen die verkleideten Männer in kleinen Holzbooten zur Stadt über. Sie ziehen lärmend bis zum Marktplatz, der schon voller Schaulustiger ist. Ein Feuerwehr-LKW muss dem Umzug den Weg bahnen.
Es ist ein Rausch, eine Feier, reinste Energie: Von den Holz-Wagen baumeln Salamis, Trockenkürbisse, Paprikaketten in Massen. Die Busós machen unerträglichen Krach mit Holzrasseln und Kuhglocken. Sie tragen 2-Liter-Flaschen Weinschorle und Mehl in Ledertaschen. Das erste wird getrunken (unter den Masken ist es sehr heiß), das zweite wird jungen Frauen in die Haare gestreut und gerieben. Sie selbst haben sich die Gesichter mit Asche geschwärzt. Die Männer wirken wie Yetis, wenn sie die Gassen entlangstapfen. Einige tragen aufgespießte Hefekringel und stoßen die Heugabel in die Nähe der Zuschauer. Andere schreien gellend. Ab und zu hört man einen riesigen Knall: In eine Kanone werden alte Lumpen und Asche gestopft und der Krempel wird gezündet. Das Alte ist vorbei, das Neue kann beginnen! Schließlich stürmen die Busós die Volkstanzbühne, wo der Bürgermeister eine kurze Rede hält. Sie verkleiden einen jungen Mann und er muss als Stellvertreter vor allen tanzen. Er sieht dabei recht glücklich aus.
Trotz Christianisierung lebten in dieser Gegend lange die alten Zauber- und Schamanenbräuche zur Initiation in das Erwachsensein fort. Von ungarischen Stämmen, die durch das Karpathen-Becken zogen und es besiedelten, ist bekannt, dass sie den Winter mit Ziegenhörnern und dem rauen Inneren ihrer Lederkleidung zu vertreiben suchten. Junge Männer bewiesen ihre kommende Männlichkeit durch das laute Rasseln von Kuhglocken in der Nähe ihres Hauses und durch das Verstreuen von Asche an den Grenzen ihres Besitzes.
Immer wieder nehmen kleine und große Masken die pubertierenden Mädchen und flirtende Frauen in die Zwickmühle. Und was so spielerisch aussieht, wird auch als ein alter Fruchtbarkeitsritus zur Vertreibung des Winters interpretiert, der als schwarzer Sarg symbolisch das Ende des Zuges markiert und am darauffolgenden Dienstag verbrannt wird. Vielleicht galt das Furcht einflößende Gehabe der Mohácser Männer aber auch als Ausdruck der erfolgreichen Vertreibung der Türken 1687, nachdem 1526 das ungarische Heer unter König Lajos II mit 25 000 Mann von den Osmanen unter Suleiman dem Prächtigen vernichtend geschlagen wurde. Nicht nur hier überlagern sich die alte Geschichten mit tradierter Historie. In Ungarn macht man das gerne so. Die Grenzen zwischen dem Belegbaren und dem Mythisierten verschwimmen. Da erinnern sich Schulkinder an die Urväter der Magyaren, an Arpád und Attila, als wenn sie sie selbst erlebt hätten.
In Mohács bleibt man den ganzen Tag und erlebt das alte Ritual. „Am besten ist das große Feuer abends“, hatte Edina gesagt. Um 18 Uhr wird ein riesiger Scheiterhaufen auf dem Markplatz entzündet. Die Besucher tanzen ausgelassen miteinander, haken sich ein, die Busós sind weiter auf Frauensuche. Edina ist im Gewühl nicht zu finden. Sie hat wahrscheinlich vermehlte Haare und zieht mit einem großen Fellmann um das Feuer. Da hinten, hinter den flackernden Flammen nähert sich eine Frau einem der verkleideten Männer, um ihm in das dichte Haar zu greifen, es sieht so puschelig aus. Da hebt er es brummend und drohend hoch und wackelt heftig mit seiner Unterhose.