Lettland

Die baltischen Krisenprofis

Der estnische Premierminister Taavi Roivas findet klare Worte für die neue linke Regierung in Athen: Jeder EU Mitgliedsstaat müsse seinen Verpflichtungen nachkommen, sagte Roivas zum Amtsantritt von Alexis Tsipras und seinem Kabinett. „Brüssel darf für Griechenland keine Ausnahmeregelung schaffen, das ginge nur auf Kosten der anderen Mitgliedstaaten.“

Taavi Roivas weiß, wovon er spricht. Kaum war Estland im Jahr 2004 wie Lettland und Litauen der EU beigetreten, drängten verstärkt westeuropäische Banken auf den baltischen Markt. Sie alle wollten neue Kunden gewinnen und boten billige Kredite an. Wenn es um Estland, Lettland oder Litauen ging, war bald nur noch von den „Tigerstaaten“ die Rede – die Wirtschaft wuchs pro Jahr um bis zu zehn Prozent. Allein in Lettland wurden mehr als elf Milliarden Euro investiert.

Zahllose Esten, Litauer und Letten wurden vom Kaufrausch gepackt. Sie nahmen die Lockangebote der Banken an und verschuldeten sich bis über beide Ohren. Denn erstmals konnten die Menschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken billige Kredite aufnehmen.


Kurz vor der Staatspleite

Vor allem aber hatte im Baltikum ein Bauboom begonnen. Viele, die mit ihren Familien bereits über Generationen in winzigen Plattenbauwohnungen lebten, wollten sich endlich ihren Traum vom Eigenheim erfüllen. Verglaste Hochhäuser, teure Villen und Nobelkarossen prägen heute das Bild des modernen Tallinn.

Ende 2008 stoppte die weltweite Finanzkrise den Geldfluss aus den Mutterhäusern der ausländischen Banken und warf vor allem Lettland aus der Bahn. Baustellen mussten stillgelegt werden, Wolkenkratzer endeten im fünften Stockwerk, kleine Schwarzwaldhäuschen blieben ohne Dachstuhl. Kurz darauf stand Lettland vor der Staatspleite – und war plötzlich in der gleichen Situation wie die Krisenländer im Süden der EU.

Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, bewilligten die Europäische Kommission und der Internationale Währungsfond der Baltenrepublik einen Kredit in Höhe von siebeneinhalb Milliarden Euro. Dafür verlangte Brüssel einen strengen Sparkurs. Ähnlich wie in Griechenland wurden auch in Lettland Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, Schulen geschlossen, Krankenhäuser dichtgemacht und die Gehälter um 20 bis 30 Prozent gekürzt. Tag für Tag standen Tausende ohne Arbeit auf der Straße.


Kaum Proteste gegen Sparkurs

Aber anders als in Griechenland gingen die Leute in Lettland nur zweimal auf die Straße, nachdem der Sparkurs beschlossen wurde. Und während für Griechenland immer wieder milliardenschwere Rettungspakete geschnürt werden, hat Lettland seinen Kredit längst abbezahlt.

Obwohl auch in Estland und Litauen die Immobilienblase platzte, waren die Nachbarstaaten nicht vom Staatsbankrott bedroht. Estland hatte bereits zu Boomzeiten ausreichende Rücklagen geschaffen. Trotzdem reagierte die Regierung damals prompt: Mit Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst – vom Beamten bis zum Staatspräsidenten. Außerdem wurde der Kündigungsschutz gelockert und ein Anspruch auf Krankengeld drastisch reduziert.

„Wir sind immer bereit, für unsere Fehler zu zahlen“, erklärt der damalige Wirtschaftsminister Juhan Parts. „Unsere Bürger haben uns sogar den Rücken gestärkt.“ Die Staatsverschuldung war in Estland so niedrig wie nirgendwo sonst in der Europäischen Union und eine stabile Währung half mit, Haushaltsdefizite rasch zu überwinden. So führte Estland am 1. Januar 2011 den Euro ein.


Schleppende Gesetzgebung von Vorteil

Litauen kam während der Krise seine schleppende Gesetzgebung zur Hilfe: Die Geldinstitute durften erst ein Jahr später als die Banken in Lettland freizügig Kredite vergeben. „Nicht jeder Betrieb drängte in die Bauwirtschaft, nicht so viele Privatleute haben sich überschuldet“, sagt Raimondas Kuodis von der litauischen Zentralbank.

Zwar hänge die Zukunft Griechenlands von der neuen Regierung des Landes ab, sagte der estnische Finanzminister Maris Lauri nach einem Treffen der Finanzminister der Euro-Gruppe. Deshalb werde mit Spannung der Aktionsplan von Premier Alexis Tsipras erwartet, denn ohne weitere Geldspritzen steht das Land Ende Februar vor dem Staatsbankrott. „Aber Estland erwartet, dass die Abkommen zur Rettungsaktion für Griechenland unter der Voraussetzung geschlossen wurden, dass sie erfüllt werden.“


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