Polen

Vom Straftäter zum Sozialarbeiter

Katholische Universität Lublin (KUL) in Ostpolen, Studiengang Sozialarbeit, drittes Semester: Die etwa 20 Studierenden haben sich mehrheitlich in die hinteren Reihen des Seminarraums gesetzt. Auf dem Programm bei Malgorzata Madry stehen heute Struktur und Organisation von Sozialhilfe. Das Thema ist diffizil, nur zwei der Anwesenden mögen von sich aus darüber diskutieren: Andrzej Adamczyk und Piotr Roszkowski. „Das sind die Studenten aus dem Gefängnis“, sagt Leiterin Madry leise, als sich die Gruppe der Teamarbeit widmet. „Und diese dort“, sie weist dezent auf die hinteren Reihen, „sind nicht aus dem Gefängnis. Und raten Sie, wer vorbereitet ist?“
  

Andrzej Adamczyk (li.) und Piotr Roszkowski.   
Andrzej Adamczyk (li.) und Piotr Roszkowski. 

Adamczyk und Roszkowski sind zwei von 24 Straftätern, die seit Oktober 2013 an der KUL eine Bachelor-Ausbildung absolvieren. Sie sind nicht zufällig in diesem Fach gelandet. „Unser Ansatz war es, explizit den Studiengang Sozialarbeit mit Schwerpunkt Streetworking anzubieten“, sagt Iwona Niewiadomska, Psychologieprofessorin der KUL und Initiatorin des Projektes. Denn in diesem Beruf solle es aus Sicht der Straftäter-Studenten später „auch um ein Stück Wiedergutmachung gehen für das, was sie früher getan haben“, sagt die Wissenschaftlerin. Manche von ihnen wurden wegen schwerer Straftaten verurteilt. Dieses Pilotprojekt ist in ganz Polen einmalig.

  In den ersten beiden Semestern unterrichtete das Lehrpersonal der KUL die anfangs noch 36 Teilnehmer nur in der Haftanstalt. Von denen, die nun noch dabei sind, darf seit Oktober 2014 knapp die Hälfte fünf Mal pro Woche ins Collegium Joannis Pauli II, an die theologische Fakultät der renommierten Hochschule, deren Namenspatron der ehemalige polnische Papst ist. Die Projektteilnehmer kommen aus Haftanstalten des ganzen Landes. Bedingung für den Studienplatz waren ein Abiturzeugnis, kein lebenslängliches Urteil und die formelle Möglichkeit, ab Ende 2014 im halboffenen Vollzug Freigänge machen zu dürfen. „Wenn am Ende 18 von ihnen den Abschluss schaffen, wäre dies ein Erfolg“, sagt Niewiadomska.


Künftige Streetworker

Fünf der Teilnehmer haben aufgrund von überdurchschnittlichen Leistungen in den ersten Semestern bereits ein wissenschaftliches Stipendium erhalten. Auch Freigänger Piotr Roszkowski zählt zu ihnen. Mit seinem dezenten Bart und den weichen Gesichtszügen wirkt er jünger als die 36 Jahre, die sein Studentenausweis angibt. Der zweifache Vater hat inzwischen drei Jahre abgesessen, maximal sechs liegen noch vor ihm. Wofür, mag er nicht erzählen. „Ich habe eine Phase in meinem Leben hinter mir, die wenig ruhmreich ist“, sagt er nur.

In den Pausen zwischen Übungen und Vorlesungen tummelt sich Roszkowski gemeinsam mit anderen Studenten und Studentinnen im elften Stock des Collegiums: Hier arbeiten sie in einem Studienzirkel, helfen bei Konferenzen und entwickeln ein Forschungsprojekt. „E-Prostitution, das ist ein großes Problem in Polen und betrifft vor allem junge Mädchen“, sagt Roszkowski. Das Stipendium, Lob von den Seminarleitern, ein vielbeachteter Vortrag bei einem Symposium nur gut einen Monat, nachdem er erstmals in den neunten Stock des CJ fahren durfte: „Wir wollen zeigen, dass wir auch als Häftlinge studieren können, und dabei nicht schlecht oder durchschnittlich sind, sondern zu den Besten gehören“, sagt er.

Mit seinem Elan in den Seminaren, seinem feinen Polnisch und seinem Faible für die sozialen Themen scheint Roszkowski in dieses Uni-Biotop perfekt hinein zu passen. Das sehen viele seiner Kommilitonen so – aber nicht alle: „Schon als wir erfuhren, dass Straftäter mit uns studieren würden, war ein Teil von uns begeistert, und ein anderer Teil hatte riesige Angst“, erzählt Weronika Tomaszewska. Auch heute sei die Gruppe in dieser Hinsicht geteilt. Für die 20-Jährige indes spielt die Vergangenheit ihrer Kommilitonen keine Rolle. Und wenn, dann als Mehrwert. „Sie zeigen uns, wie die kriminellen Milieus von innen aussehen, und wie man als Sozialarbeiter in diese Kreise vordringen kann.“
Wer stellt Ex-Häftlinge ein?


Freiheit als Zustand des Verstandes

Ob sich die heute einsitzenden Studierenden künftig selbst als Streetworker in diese Milieus vorwagen dürfen, ist jedoch fraglich. Selbst wenn die Verantwortlichen vorurteilsfrei wären: Staatliche Institutionen dürfen laut Gesetz keine Personen einstellen, die vorbestraft sind. Die Projektverantwortliche Niewiadomska sieht jedoch große Chancen in der Arbeit bei Stiftungen und Vereinen. „Das Potenzial dieser Einrichtungen ist groß, und sie signalisieren uns die Bereitschaft zur Zusammenarbeit, etwa bei der Arbeit in Heimen für entlassene Häftlinge“, sagt sie. Und auch wenn das laufende KUL-Projekt ohne Fördermittel auskomme: Für den Zeitraum 2014-2020 gäbe es die Möglichkeit für EU-Projekte, die auf Inklusion abzielten.

An einer späteren Inklusion scheint es auch Andrzej Adamczyk gelegen zu sein. Der 30-Jährige hat Einbrüche und Diebstahl auf dem Konto. Seit zweieinhalb Jahren sitzt er ein, Ende 2016 läuft seine Strafe aus. Der Vater einer Tochter spricht mit ruhiger, tiefer Stimme. „Ich habe nun ein konkretes Ziel“, sagt er. „Und ich hoffe, dass ich meine Erfahrungen einmal nutzen kann, um junge Leute vor großem Blödsinn zu bewahren.“ So jemanden hätte auch er einst gebraucht, sagt er, ganz ohne Pathos. Dann muss Adamczyk heim ins Gefängnis, und aus dem Studenten wird wieder der Häftling, zumindest über Nacht.

Die Haftanstalt liegt etwa sechs Kilometer entfernt vom Collegium Joannis. An der Eckmauer des Gefängnisses prangt ein buntes Bild: Pinguine, die gedankenversunken durch die Lüfte gleiten. „Freiheit“, sagt die Aufschrift über dem Bild, „ist ein Zustand des Verstandes“. Oder auch des Geistes, die polnische Sprache ist hier zweideutig.


Klartext in der Seminarpause

Es ist 8 Uhr, in einem modernen Seminarraum der Haftanstalt sitzt ein gutes Dutzend Männer: diejenigen Studenten, die das Gefängnis nicht als Freigänger verlassen dürfen. Der katholische Geistliche Jerzy Koperek, Professor der KUL, wird ihnen heute Struktur und Rechtsfragen der Sozialhilfe erläutern. Als das Seminar beginnt, werden auch sie aktiv, hören konzentriert zu, antworten auf Fragen, haken kritisch nach. Doch in der Pause sprechen sie Klartext.

„Ich fühle mich betrogen und getäuscht“, sagt Michal, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen mag. Die Information durch die Gefängnisverantwortlichen vorab sei klar gewesen: „Nach dem erfolgreichen ersten Studienjahr, hieß es, könnt ihr raus an die Uni“, sagt er. Michal hatte sich ein kleines bisschen Freiheit erhofft. Dies sei nicht die einzige Motivation für das Studium gewesen, sagt er, aber eine von vielen schon.

Dennoch, auch Michal und andere auch tagsüber einsitzende Kommilitonen loben ihr Studium. Der 44-jährige Pawel erzählt, dass Sozialarbeit anfangs nicht sein Wunschstudium war, nun aber sei er von den Möglichkeiten des Fachs überzeugt. Auch Tomasz Susel, Leiter der Strafvollzugsabteilung, sieht Fortschritte. „Diejenigen, die rausgehen, bestehen täglich eine Prüfung, wie sie sich in Freiheit verhalten und den Verlockungen widerstehen“, sagt er. Und die anderen, die nicht raus dürfen, obwohl sie es doch dürfen sollten? „Dieses Kriterium für Freigänge gab es nicht“, sagt Susel nur. Aber, schiebt er nach, es gäbe einige, die bis zum Studienabschluss mit Freigängen rechnen könnten.


Zahl der Wiederholungstäter steigt

Das hofft auch Projektleiterin Niewiadomska. Noch mehr hofft sie allerdings, dass ihr Projekt Schule macht. Denn um die Resozialisierung steht es in Polen nicht zum Besten. Die Zahl der Wiederholungstäter ist zwischen 2008 und 2012 um knapp 50 Prozent gestiegen. Experten verwundert das nicht. „Wie soll man jemanden erneut sozialisieren unter Bedingungen gesellschaftlicher Isolation wie der Haft? Das kann nicht klappen“, sagt Wieslaw Ambroziak, Direktor am Institut für Resozialisierung der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan. Auch die ersten Erfahrungen des Lubliner Projektes deuten in diese Richtung. „Jene Studenten, die an die Uni kommen dürfen, sind sehr zufrieden, denn sie funktionieren in der Rolle freier Menschen. Bei jenen aber, die in der Haft lernen müssen, entstehen Spannungen, weil sie nicht raus können“, sagt Niewiadomska.

Eng ist es in den Fluren des Lubliner Gefängnisses, und laut, doch kein zielgerichtetes Treiben gibt es hier, wie im Collegium. Als Andrzej Adamczyk an diesem Tag im Gefängnistrakt steht, wirkt er wie fehl am Platz mit dem mit Büchern gefüllten Rucksack. „Na, zu Besuch im Hotel?“, fragt er schmunzelnd. Vorsichtiger, blasser als tags zuvor wirkt Adamczyk hier. Weil er sich hier nicht mehr zugehörig fühlt? „Die Treffen mit Kommilitonen, die Fahrten mit dem Bus, die Veranstaltungen an der Uni – all das macht für mich die Strafe im Gefängnis viel empfindlicher, als sie es zuvor war“, hatte er drüben im Collegium noch gesagt.

Adamczyk wird heute wieder dorthin gehen. Vielleicht wird er Ende 2016, wenn die Abschlussexamen anstehen, zu den Besten des Jahrgangs gehören, zusammen mit Piotr Roszkowski, aber auch Michal, Pawel und einigen anderen. Und vielleicht schaffen sie sie, diese radikale Wende – vom Straftäter zum Streetworker. „Wir verbüßen unsere Strafen“, sagt Roszkowski. „Wir haben aber auch das Recht, glückliche Menschen zu sein.“

Dieser Text wurde mit einem Reisestipendium von n-ost gefördert. n-ost ist der Herausgeber dieser Seite.


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