Belarus

Schichtunterricht und Feiern im Park


Ja, auch in Belarus wird studiert. Die Studierenden unterscheiden sich auf den ersten Blick kaum von ihren Kommilitonen in Deutschland. Sie verschicken SMS im Unterricht, mögen die Pausen an der Uni am liebsten und gehen gerne ins Kino. Die Mädchen tragen im Sommer bauchfrei und Hosen mit Schlag sind gerade sehr hipp.

Grrrrr. Mit einem langgezogenen Klingelton beginnt an der Belarussischen Staatlichen Wirtschaftsuniversität morgens um 8.30 der Unterricht. Wie bei uns in der Schule bezeichnen die Studierenden das, was jetzt kommt, als erste Stunde. Marketing ist der Titel der heutigen Vorlesung. Der Raum füllt sich nur langsam. Nur wenige Studenten wohnen im nah gelegenen Wohnheim. Die Meisten wohnen bei ihren Eltern oder anderen Verwandten in Minsk. Sie reisen per Metro, Straßenbahn und Trolleybus an. Das dauert am Morgen in der 1,7 Millionenstadt Minsk laenger als eine Stunde. Auch die Dozentin verspätet sich. Sie verdient monatlich keine 100 Dollar an der Universität und arbeitet deshalb parallel als Sekretärin in einem Unternehmen. Nur so kann sie ihre Familie ernähren. Auch viele Studierenden arbeiten parallel zum Studium, um ihre Eltern bei der Zahlung der Studiengebühren von ca. 150 Euro im Monat zu entlasten.

Trotz des sozialistisch-administrativ geprägten Wirtschaftssystems im Land wird an der Uni Marktwirtschaft gelehrt. Die Studierenden weisen dadurch eine doppelte Qualifikation auf, die ihnen selten bewusst ist: Sie sehen in Minsk wie der Osten funktioniert und lernen an der Uni das westliche Wirtschaftssystem kennen.

Die zweite Stunde verbringen wir an der Europäischen Humanistischen Universität (EHU). Sie beginnt um 10.00 Uhr ohne Klingelton. Diese Privatuni, die erst vor elf Jahren gegründet wurde, hebt sich bewusst von der Sowjettradition ab. Rektor Professor Anatoliy Michailov hat nach eigenen Angaben das Ziel, eine „kritische Masse“ auszubilden, als Basis fuer eine demokratische, westliche orientierte Elite von Morgen, die dem Land bislang fehlt. Alle Studierende lernen neben ihren Studienfaechern wie Wirtschaft, Jura, Psychologie oder Philosophie zwei Sprachen. Die Hälfte von ihnen Deutsch. Die Kontakte nach Deutschland sind gut. Viele haben schon ein Semester in Deutschland studiert. „Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens“ heißt der Kurs, der gerade beginnt. Im Raum „Nordrhein-Westfalen“, mit modernen Büromöbeln, Computer und Videobeamer ausgestattet, läuft der zusätzliche Studiengang Deutschland- und Europastudien. Engagement wird im Gegensatz zu vielen staatlichen Unis hier groß geschrieben. Einige Studenten engagieren sich in der Studierendenorganisation AEGEE (Association des Etats Generaux des Etudiants de l´Europe), es gibt ein Zentrum für Gender Studies und für zivilgesellschaftliches Engagement.

Grrrrr. Wieder dieser Klingelton. Diesmal an der Staatlichen Universität Grodno, einer Grenzstadt in Richtung Litauen und Polen. Im Gegensatz zur übrigen Region in Belarus herrscht in den Straßen internationales Flair. Die Punkszene ist stolz darauf, dass Grodno die einzige nazifreie Stadt in Belarus ist. Ab 11.30 Uhr wird nationale Ideologie unterrichtet. Der Seminarraum erinnert an eine Schule in den 30er Jahren in Deutschland. Die Studenten sind im zweiten Semester und müssen wie alle Kommilitonen diesen Kurs besuchen. Das hat der Präsident Anfang 2003 entschieden und inzwischen fast zwei Millionen Euro dafuer zur Verfügung gestellt. Aber Lehrbücher wird es erst Anfang 2004 geben. Spezielle Lektoren werden an der Verwaltungsakademie ausgebildet und Ideologie wird in Belarus nicht nur zu einer Wissenschaft, sondern in Zukunft auch zu einem Beruf.

Das System ist auch über den Klingelton hinaus verschult: Es wird in festen Gruppen studiert, die allerdings selten größer sind als 20 Personen. Die meisten beginnen mit 17 Jahren zu studieren und sind mit 22 fertig. Dass sie damit wesentlich jünger sind als in Deutschland, wenn sie ihren Abschluss haben, gefällt ihnen gut. Viele wollen noch einen Masterstudiengang absolvieren mit der Hoffnung ihre beruflichen Perspektiven im In- und Ausland zu verbessern. Der Stundenplan wird jede Woche geändert, zum Pflichtprogramm gehört außer Ideologie auch Sportunterricht – sofern die Universität über eine Sporthalle verfügt. Auch Belarussisch, die Amtssprache neben Russisch, müssen alle an der Universität belegen, oft in Anlehnung an ihr Studienfach, z.B. belarussische Philosophie oder belarussische Kunstgeschichte.

Der belarussische Studententag ist lang, 40 Wochenstunden sind der Durchschnitt. Das hält aber niemanden vom Feiern ab. Kneipen gibt es selbst in der Hauptstadt kaum. Und da auch nur wenige Geld haben, wird am liebsten zu Hause gefeiert. Wenn das nicht geht, weil Eltern oder die Aufsichtspersonen im Wohnheim dagegen sind, wird im Park gefeiert. Eine Flasche Wodka kostet nicht viel mehr als ein Liter Saft. Dort spielt dann auch einmal im Jahr die Band „Drum Ecstasy“ umsonst und draußen unter der Brücke. Nach ca. 40 Minuten wird das illegale Konzert zwar üblicherweise von der Polizei abgebrochen. Die 150 Zuschauer, die im Park gefeiert haben oder per Mund-zu-Mund Propaganda davon erfahren haben, umringen dann aber die vier Trommler bis die beiden Polizisten ihnen die Pässe zurückgeben. Mit Klatschen belohnen die Jugendlichen dieses Verhalten. Leben in Belarus.

Das Bildungsministerium berichtete auf einer Pressekonferenz, dass es in Belarus an 59 Hochschuleinrichtungen 273.000 Personen studieren. Das entspricht 3,2 Prozent der Bevölkerung mit steigender Tendenz. Tatsächlich ist Studieren bei jungen Belarussen sehr beliebt. Wie in Deutschland ist es oft die Flucht vor der Arbeitslosigkeit, die in Belarus bedeutet, dass man dann zu staatlichen Arbeitseinsätzen verpflichtet wird. Viele junge Männer studieren und heiraten während des Studiums, um dem Dienst bei der Armee zu entgehen. Reduziert werden die Zahlen durch die Exmatrikulationen am Anfang jedes Studienjahres, denn viele kommen von ihrem Sommerjob in den USA nicht zurueck.

Wie in allen Laendern gibt es natuerlich auch in Belarus auslaendiche Studierende. Besonders beliebt ist das Land bei den GUS-Staaten. „Die Belarussen sind viel offener und freundlicher als die Russen“, sagt Dimitri aus Turkmenistan, der bereits seit zwei Jahren an der Belarussischen Staatlichen Universitaet studiert. Andere Asiaten trauen sich nicht oft auf die Strasse, um nicht aufzufallen. Auch aus Deutschland gibt es immer wieder vereinzelte Studierende, vor allem an der Europaeischen Universitaet. In Spezialkursen lernen sie zusammen mit Franzosen und Polen belarussische Literatur kennen oder bueffeln politologische Fachsprache.

Und wovon träumen belarussische Studenten? Von einer eigenen Insel, sagt Vera (21), die an der EHU Design studiert. Davon Beruf und Familie zu verbinden, sagt Kolja (19) von der Belarussischen Staatlichen Universität. Natascha aus Grodno träumt von Schnee am Wochenende. Einige Studierende träumen vom Weltfrieden und davon, ihr Land Belarus ohne die heutige Regierung zu sehen. Und sehr viele Studierende sind abergläubisch und wollen deshalb nicht verraten, was sie träumen, denn dann geht es nicht in Erfüllung.


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