Die Ankunft
In Ulcinj hat es mitten im Sommer geschneit, berichten die Morgennachrichten, und die Leute fragen sich jetzt sicher: Warum? Ja, wozu schneit es? In Kindheitsgeschichten, wie ich sie dir erzähle, fällt der Schnee, um Frieden und Freude zu bringen. Ich glaube nicht, dass sich meine Geschichte wesentlich von den vielen anderen unterscheidet: Kindheit ist eine Massenerscheinung. Und oft sammeln sich die schönsten Momente der Kindheit an glücklichen, mit Schnee berieselten Wintertagen.
Der Schnee lässt die Welt anders leuchten
Bei Joyce zum Beispiel schneit es am Ende einer der bewegendsten Erzählungen der Literaturgeschichte, die zwar nicht so lange zurückreicht wie die Geschichte des Schnees, die aber ähnlich wie der Schnee die Spuren derer offenlegt, die durch diese Welt geschritten sind. Das Ende von Die Toten, als Gabriel Conroy begreift, dass seine Frau ihr Leben an seiner Seite verbringen wird, dass sich das wichtigste Ereignis ihres Lebens aber schon zugetragen hat, als ein junger Mann aus Liebe zu ihr gestorben ist, als Gabriel begreift, dass alles, was er ihr im Leben bieten kann, nichtig ist im Vergleich zu dem, was der tote Michael Furey bereits für sie getan hat ... aber vielleicht nehme ich all das zu persönlich. Ich habe eine Schwäche für traurige Liebesgeschichten.
Verstand ist nur in dem Maße gut, wie er nicht jede Lebensfreude nimmt
Jetzt weißt du, warum es für mich schneit. Der Schnee lässt die Welt anders leuchten – das Licht fällt vom Himmel, es bedeckt uns und alles, was wir sehen können, alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Egal, wie oft wir es schon gesehen haben, es ist ein Anblick, der uns jedes Mal neu fasziniert. Natürlich kann man Schnee auch als gefrorenes kondensiertes Wasser betrachten, aber Rationalität ist nur in dem Maße gut, wie unser Verstand uns nicht jegliche Lebensfreude nimmt. Erscheinungen wie der Schnee müssen unerklärt bleiben und damit unschuldig, nur so können wir sie genießen. Unter einem Himmel zu stehen, der uns mit Schnee berieselt, und dabei über die atmosphärischen Prozesse nachzudenken, die zum Schneefall geführt haben, ist sicherlich nicht unvernünftig, aber armselig und irgendwie bedauerlich, bemitleidenswert. Ein solcher Mensch empfindet den Schnee nur als Störung – eine von vielen, die ihn bis zu seinem Tod noch erwarten, der größten Unannehmlichkeit am Schluss.
Der Mensch bricht wie das Eis
An einen Schnee kann ich mich besonders gut erinnern. Es war ein Kriegsjahr, welches weiß ich nicht mehr genau, ich kann sie nicht auseinanderhalten, sie sind alle zu einem Gefühl der Übelkeit verschmolzen. Ich durchlebte sie nicht direkt und vor Ort, aber ich durchlebte sie mit dir. Ich blätterte in Zeitungen und Büchern und prägte mir jeden Auszug, jeden Link ein, der irgendetwas mit der Zeit und dem Raum zu tun hatte, in denen du gelebt hast. Die menschliche Natur ist hoffnungslos korrupt, deshalb ist Korruption in jeder von Menschen geschaffenen Ordnung zu finden. Auf dem Markt, in der Kirche, und auch hier, wo ich zu meinem Besten gefangen gehalten werde. Zum Glück, wie ich hinzufügen muss. Denn wie wäre es mir sonst gelungen, einen Computer ins Zimmer zu schmuggeln, wenn es keine käuflichen Menschen gäbe, wie würde ich sonst an die Bücher kommen, die ich brauche, um möglichst oft bei dir zu sein?
Andrej Nikolaidis liest aus seinem Roman „Die Ankunft“ am Dienstag, 13. Januar 2015, 18 Uhr, im Institut für Slawistik, Dorotheenstraße 65, Berlin-Mitte, 5. OG, Raum 5.57. Im Rahmen der Lesereihe „Die Unzufriedenen – Literaturen des Protests aus Südosteuropa”.
In jenem Winter also schneite es. Der Strom fiel aus, tagelang, und so spazierte ich jede Nacht mit dir durch die menschenleere Stadt. Unter unseren Füßen brach das Eis, während wir darüber sprachen, was alles zu tun sei, wie weise und vorsichtig man sein müsse, um ein weiteres Jahr zu überleben. Genauso bricht auch der Mensch, sagtest du mir. Er hat festen Halt, es sieht aus, als könnte er eine Ewigkeit lang standhalten. Aber dann reicht eine kurze Berührung mit dem Unglück, ein weiteres Problem, nur noch ein Fuß, der auf ihn tritt, und schon zerspringt der Mensch wie das Schaufensterglas an den Plätzen bombardierter Städte.
Der Text, aus dem alles entstanden ist
Der Nordwind blies die Wolken über der Stadt davon, und Kälte legte sich über die Landschaft, um sie zu erhalten, so wie man Ölgemälde alter Meister konserviert. Die Sterne gossen ihr Licht aus, und der schneebedeckte Boden warf es zurück. Jetzt, da die Trafostationen ausgebrannt und die Fernleitungen unterbrochen waren, die Leute in ihren Häusern mit Kerzen Licht machten und es keine Straßenbeleuchtung mehr gab, war die Stadt heller als je zuvor. So hell wie die Städte, an die sich die Lebenden nicht mehr erinnern, Städte aus Zeiten, die niemandem im Gedächtnis geblieben sind. Die wir nur aus Büchern kennen, gedruckt auf schneeweißem Papier – Papier, das darauf wartet, dass Schnee auf die Ränder fällt, dass uns endlich offenbar wird, wozu es schneit: damit wir das auf Papier gedruckte Wort deutlicher sehen, damit wir es lesen, den Text, aus dem alles entstanden ist.
© Voland & Quist
Andrej Nikolaidis: Die Ankunft
Aus dem Bosnischen von Margit Jugo
114 Seiten
ISBN: 3863910664
16,90 Euro