Singend in die Freiheit
„Singende Revolution“ ist die poetische Umschreibung für die Großereignisse, die auf der Tallinner Sängerwiese zwischen Frühjahr und Herbst 1988 ihren Anfang fanden und 1991 in die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten von der Sowjetunion mündeten.
1988 wurden auf der Sängerwiese in der estnischen Hauptstadt Tallinn Reden gehalten und Lieder gesungen, die ein halbes Jahrhundert lang verboten gewesen waren. Die Reformpolitik Gorbatschows wurde lautstark unterstützt, die estnischen Gesetze für wichtiger erklärt als die sowjetischen. Die mutigeren unter den Bürgern gründeten die Bewegung der Bürgerkomitees und forderten die Wiederherstellung der estnischen Unabhängigkeit. In den folgenden Monaten breitete sich die Singende Revolution auch auf die anderen baltischen Staaten aus.
Für die Bürger der drei okkupierten Länder hatte die alte Gesangstradition immer für den Traum von der Freiheit gestanden. Die Tradition der Sängerfeste und Gesangsvereine war Mitte des 19. Jahrhunderts von Deutschland aus ins Baltikum gelangt, das erste Sängerfest 1869 im estnischen Tartu abgehalten worden. Heute findet das estnische Liederfest wieder alle fünf Jahre statt, zuletzt in diesem Sommer, als auf der Tallinner Sängerwiese mehr als 33.000 Sänger vor fast 153.000 Zuschauern auftraten.
Ein Zauberspruch, ein Versprechen
Die Sängerfeste mit ihren vielen tausend Teilnehmern wurden in Estland wie in Lettland und Litauen auch während der sowjetischen Okkupation weiter gefeiert. Zwar waren die Teilnehmer gezwungen, auch sowjetische Lieder zu singen, doch die baltischen Volkslieder blieben Teil des Programms. So bildete das Lied „Mu isamaa on minu arm“ („Mein Vaterland ist meine Liebe“) des Chorleiters Gustav Ernesaks während der gesamten Okkupationszeit das Rückgrat des nationalen Selbstbewusstseins der Esten. Der Erhalt dieser Tradition beschleunigte die Wiederherstellung der Bürgergesellschaft in den baltischen Staaten, wie es sie vor der Okkupation gegeben hatte und wie es sie damals im demokratischen Westen gab.
Ich erinnere mich, wie ich dieses Lied in 1970 als Zehnjährige auf einem Sängerfest mitgesungen habe. Wir haben es immer und immer wieder gesungen, geklatscht, bis Ernesaks zurück auf die Bühne kam, und wir alle haben geweint. Sowjetische Soldaten waren überall auf der Sängerwiese, die Plakate zierten die Porträts der kommunistischen Parteiführung. Und trotzdem hatte es dieses einzig wichtige Lied, „Mu isamaa on minu arm“, ins Programm des Sängerfests geschafft, wie durch ein Wunder, wie ein Versprechen von Freiheit.
Im Frühsommer 1988 war das Lied dann plötzlich erlaubt, wie viele andere nationale Lieder auch. Ich hatte damals eine Ausbildung in klassischem Gesang hinter mir und hatte im Opernchor des Vanemuine-Theaters gesungen. Während der Ereignisse war ich in Mutterschaftsurlaub, was mich aber nicht daran hinderte, an den nächtlichen Sängerfesten teilzunehmen. Mit Kleinkindern auf dem Schoß ersangen wir uns dort die Freiheit – es war wie eine Meditation, ein Zauberspruch. Die Sowjetsoldaten hatten sich in die Kasernen zurückgezogen, sie waren kaum auf den Straßen zu sehen.
Welle der Euphorie
Der Freiheitswille der Balten erreichte seinen Höhepunkt im Juli 1988 auf dem Studenten-Sängerfest „Gaudeamus“ im litauischen Vilnius. Es war das erste Mal, dass die litauischen Nationalfahnen in der Öffentlichkeit gezeigt wurden, um der Okkupationsmacht zu trotzen. Die meisten dieser gelb-grün-roten Fahnen hatten estnische Studenten in ihren Rucksäcken auf die Sängerwiese geschmuggelt – die litauische Miliz hatte keine Befugnis, Esten zu durchsuchen.
In Estland waren die blau-schwarz-weißen Nationalfahnen schon im April 1988 auf den Tagen des estnischen Nationalerbes in Tartu herausgeholt worden. Mitte Mai wehten sie auf den Popmusik-Tagen in Tartu schon überall, und die Abschlussfeiern der Gymnasien und Universitäten im Juni wurden allesamt in den Farben der Nationalflagge zelebriert. Wie viele junge Frauen und Mädchen nähte auch ich mir damals einen Rock in blau-schwarz-weiß und hängte mir blau-schwarz-weiße Holzperlen um den Hals.
Noch nie in der estnischen Geschichte hatte es seine solche Feststimmung auch im Alltag gegeben. Im Juli ritten die Esten auf einer Welle der nationalen Euphorie, und so war es nur natürlich, dass die Chöre und Tanzgruppen, die zum „Gaudeamus“-Fest in Litauen fuhren, estnische Nationalflaggen im Gepäck hatten. Als Zeichen der Solidarität hatten viele von ihnen aber auch lettische und litauische Fähnchen dabei.
Miliz auf Rückzug
Estlands südliche Nachbarn wagten damals noch nicht einmal davon zu träumen, ihre Nationalflaggen öffentlich zu zeigen – im Frühsommer 1988 hinkte der politische Aufbruch in Litauen und Lettland dem estnischen um mehrere Monate hinterher. Die Litauer versuchten zum ersten Mal am 14. Juni 1988 in Vilnius, auf der Volksversammlung zum Gedenken an die Deportation der Balten nach Sibirien im Jahr 1941, ihre Flagge öffentlich zu zeigen. Die Miliz und der KGB verhinderten dies aber.
Das Eröffnungsfest von „Gaudeamus“ fand zwei Wochen später am 1. Juli statt. Um auf die Bühne zu kommen, mussten die Sänger durch ein Tor, das von einer dichten Mauer aus Milizionären flankiert war. Obwohl die Miliz die litauischen Sänger und Tänzer durchsuchte und ihre Fahnen konfiszierte, bot sich von der Bühne aus ein unglaublicher Anblick: hunderte litauische Fahnen wehten über den Köpfen der Menschen. Das Sängerfest von Studenten aus drei Ländern war spontan zur ersten nationalen Kundgebung in Litauen geworden – zwischen den Liedern rief das Volk immer wieder die drei Landesnamen: „Lietuva, Latvia, Estija!“
Indrek Park vom Blasorchester der Estnischen Landwirtschaftsakademie erinnerte sich vor einiger Zeit in der Zeitung „Maaleht“, wie die Miliz sich vor dem „Gaudeamus“-Abschlusskonzert am 3. Juli auf einen Zugriff vorbereitete: „Der Rand der Sängerwiese war grau von ihren Uniformen. Trotzdem wehte über dem Publikum ein Meer von gelb-grün-roten Fahnen.“ Als die estnischen Chöre die Bühne betraten, seien die grauen Kolonnen aus mehreren Richtungen ins Publikum vorgedrungen. „Die litauischen Fahnen begannen zu sinken, und ein lautes Pfeifkonzert brach aus. Die estnischen Sänger skandierten von der Bühne: Raus, raus, raus!“ Angesichts dieser unerwarteten Reaktion trat die Miliz den Rückzug an, die litauischen Fahnen stiegen wieder über die Köpfe und wilder Applaus breitete sich aus.
Kette von Tallin bis Vilnius
Ein Höhepunkt der Singenden Revolution war der 23. August des nächsten Jahres: der Baltische Weg. Diese gemeinsame Kundgebung aller drei baltischen Staaten sollte der Welt ihren Freiheitswillen zeigen – genau 50 Jahre nach Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts, durch dessen geheime Zusatzprotokolle das Baltikum zwischen der Sowjetunion und dem deutschen Reich aufgeteilt wurde, bevor es 1940 von der Roten Armee besetzt wurde. Rund zwei Millionen Menschen beteiligten sich am 23. August 1989 am Baltischen Weg – fast 25 Prozent der damaligen Bevölkerung von Estland, Lettland und Litauen. Sie bildeten eine 600 Kilometer lange, ununterbrochene Kette von Tallinn über Riga bis nach Vilnius.
Ich erinnere mich noch an diesen schönen sommerlichen Augusttag, an dem ich Teil dieser Menschenkette war, zusammen mit meiner Familie und allen drei baltischen Völkern. Einer Kette, durchdrungen vom Gefühl der Freiheit, von Aufregung und einem inneren Zittern, das man so wahrscheinlich nie wieder spüren kann.
Aus dem Estnischen von Maris Hellrand, n-ost
In Kooperation mit Renovabis