„Vor dem Krieg wäre ich Schneiderin geworden“
[Wie] haben Sie sich [als Kind] Ihre Zukunft vorgestellt?
Ich wollte auf das angesehene Piotr-Skarga-Gymnasium, bin aber nicht aufgenommen worden. Das empfand ich als Klassenungerechtigkeit. Es schien mir nicht gerecht, dass die Tochter eines Oberst, die weit weniger begabt und weit weniger belesen war als ich, aufgenommen wurde und ich nicht. Ich hatte zwar keine guten Noten, aber ich las ununterbrochen und wusste sehr viel, so nahm ich es wahr. Aber dann brach 1939 der Krieg aus und alles wurde anders.
Haben Sie so etwas wie „Ihren“ September 1939?
Nun ja. Als die Litauer 1939 in Wilna einmarschierten, wurden sie von den Polen wie Besatzer behandelt. Für die Litauer war das einfach die Wiedererlangung Wilnas. Es brachen immer wieder polnisch-litauische Konflikte aus, aber daran erinnere ich mich nur aus Erzählungen. Damals gab es noch keine Leichen auf den Straßen oder Pogrome. Aber dann kam die sowjetische Besatzung, und nach ihr die deutsche.
Auszug aus dem Buch: Kazimiera Szczuka: „Janion. Transe - traumy - transgresje. 1: Niedobre dziecię“.
Die Autorinnen unterhalten sich in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin am Freitag, 28. November 2014, 19 Uhr über das Lebenswerk Janions.
Anlass ist u.a. das Erscheinen der ersten deutschsprachigen Janion-Studien bei Suhrkamp: „Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire“, herausgegeben von Magdalena Marszalek.
Hat denn Ihr emotionales Gedächtnis irgendetwas Besonderes bewahrt?
Ja, so einiges. Es herrschte eine wahnsinnige Beunruhigung. Beunruhigung und Angst. Die Erwachsenen redeten nur noch über den Krieg. Vom September selbst erinnere ich mich nur an das furchtbare Entsetzen über diese Katastrophe. Damals lernte ich schnell, dass das Schlimmste am Krieg die besondere Art der Orientierungslosigkeit ist. Niemand weiß, wo unsere Kämpfer sind, was unsere Kämpfer gerade machen. Es wird bombardiert, Nachrichten kursieren, die Deutschen seien hier einmarschiert und hätten sich von dort zurückgezogen, aber niemand weiß, was das alles heißt und wie es für uns enden wird. Somit ist das wohl das Schlimmste. Ich saugte die Gespräche der Erwachsenen wie gebannt auf, und es redeten alle mit allen. 1939 trat eine absolute Demokratisierung ein, es gab die strengen Klasseneinteilungen nicht mehr. Karol Irzykowski beschreibt in seinen Tagebüchern, wie er und sein Dienstmädchen sich plötzlich in ihrem Interesse an der Wirklichkeit auf derselben Stufe befanden, Meinungen austauschten und sich beratschlagten, was zu tun sei. Auch Marcin Zaremba stellt in seinem hervorragenden Buch Die große Not. Polen 1944-1947 fest, dass der Prozess der Demokratisierung durch den Krieg erzwungen worden sei, da die polnische Gesellschaft vor dem Krieg noch »einen stark von der Ständegesellschaft geprägten Charakter« gehabt habe. Vor dem Krieg wäre ich Schneiderin geworden und aus.
Gab es denn auch einen Alltag, eine Normalität?
Ja, ich kam im September auf das ersehnte Gymnasium. Als die Litauer die Herrschaft in der Stadt übernahmen, wurde das Piotr-Skarga-Gymnasium zu einer allgemein zugänglichen Schule. Später nahm ich am geheimen Unterricht teil, gehörte der Pfadfinderbewegung an, durchlebte starke patriotische Gefühle. Die Lehrer aus den Wilnaer Lerngruppen bemühten sich jedoch eher, uns zu schützen. Doch mein Bruder Mirek ging als Widerstandskämpfer in den Untergrund, zum berühmt-berüchtigten »Wilk« [Wolf] Krzyżanowski , dem Vater von Olga Krzyżanowska. Er wurde schwer am Kopf verletzt, unsere Mutter saß nächtelang an seinem Krankenhausbett. Fast wäre er gestorben, doch irgendwie schaffte sie es, ihn dem Tod zu entreißen. Später versteckte er sich bei Bekannten, und Mutter und ich blieben zu zweit zurück.
Jetzt haben Sie schon fast die ganzen Kriegszeit zusammengefasst. Vielleicht verlangsamen wir etwas das Tempo...
Bezeichnend ist, dass ich mich nur schwach an die Schule erinnere. Das richtige Leben war für mich, Bücher zu lesen und durch Wilna zu streifen. Als in der Stadt schon die Litauer regierten, nahm meine – ja, ich kann es wohl nicht anders bezeichnen – Liebe für diese Stadt ihren Anfang und wurde später noch stärker. Ich schloss Wilna in mein Herz. Das war eine unglaubliche Liebe. Ich fing an, Bücher über Wilna zusammenzutragen und eignete mir ganz selbständig Wissen über die Stadt an, denn in der Schule wurde uns nichts zu diesem Thema gesagt. Ich las Lyrik über Wilna, später auch die Zeitschrift »Alma Mater Vilnensis«, die von Studenten der Stefan-Batory-Universität herausgegeben wurde. In der Lerngruppe hatte ich dann eine großartige Lateinlehrerin, bei der ich zusätzlich Privatstunden in Altgriechisch nahm. Sie war ebenfalls eine leidenschaftliche Wilna-Liebhaberin. Ich konnte mir bei ihr die verschiedensten Bücher ansehen und auch ausleihen. Dabei stieß ich auf Czesław Miłosz' Gedichtband „Drei Winter“ und las ihn sehr früh, noch zur Zeit der Besatzung. Vielleicht verstand ich nicht alles, aber die Gedichte beeindruckten mich sehr, für mein ganzes Leben.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes.