Aufstand der Ungenießbaren
Ach, die Zukunft, die Zukunft, sie ist doch nur eine statistische Wahrscheinlichkeit, sagte Gärtner, während er die hintere Tür des Autos, das am Waldrand stehen geblieben war, öffnete.
Er zog einen Mann mit schwarzem Anzug, leuchtend weißem Hemd und gewienerten schwarzen Schuhen unsanft aus dem Auto. Die Hände des Mannes waren auf dem Rücken gefesselt, er hatte ein Pflaster über dem Mund, mit hervortretenden Augen starrte er Gärtner an, schüttelte den Kopf und grummelte etwas.
Ich verstehe dich nicht, sagte Gärtner, du hast da was auf dem Mund kleben. Obwohl, er zeigte mit seinem Kopf in Richtung Auto, sie sagt, dass man auch mit geschlossenem Mund und zugeschnürter Kehle sprechen kann. Weißt du, sie liest allerhand Bücher und erzählt alles Mögliche … Aber jetzt lass uns an die Arbeit gehen.
LESUNG
Edo Popovic liest aus seinem Roman „Der Aufstand der Ungenießbaren” am Dienstag, 11. November 2014, 18 Uhr, im Institut für Slawistik, Dorotheenstraße 65, Berlin-Mitte, 5. OG, Raum 5.57. Im Rahmen der Lesereihe „Die Unzufriedenen – Literaturen des Protests aus Südosteuropa”.
Sie gingen den Waldweg entlang. Es war spät am Nachmittag. Unter ihren Schuhen knirschte der Kies. Am klaren hellblauen Himmel über den Wipfeln der Eichen hingen blasse, verwischte Wolken. Der Wind rauschte in den Blättern. In einer Baumkrone zwitscherte eine Amsel ihr Liebeslied. Ein Vogel kreischte beunruhigt im Dickicht auf. Die Luft war schwer und klebrig. Sie blieben auf einer Lichtung stehen, die von den riesigen Blättern der Wasserklette gesäumt war.
Ein feines Plätzchen, um sich zu unterhalten, was denkst du?, fragte Gärtner.
Der Mann versuchte nicht einmal, etwas zu sagen. Auch die metallblau schimmernden Käfer auf der Wasserklette schwiegen, sie knabberten nur an den Blättern, ohne sich um die beiden zu kümmern.
Jetzt mal im Ernst, warum zieht ihr euch alle so an?, musterte Gärtner sein Gegenüber. Diese dunklen Anzüge, weiße Hemden aus vermutlich antibakteriellen Fasern … Ich beobachte Typen wie dich in Cafés, ihr trinkt alle, aber wirklich alle koffeinfreien Kaffee und stilles Wasser, ihr raucht nicht … Für mich seht ihr alle gleich aus … Und überhaupt, wer bist du eigentlich, er riss ihm das Pflaster vom Mund.
Der Mann leckte sich über die Lippen und sah sich um.
Ich heiße Ivo Pavic, sagte er schließlich, aber das weißt du doch bestimmt.
Woher sollte ich wissen, wer du bist?, fragte Gärtner.
Ich glaube nicht, dass ihr mich völlig wahllos verschleppt habt.
Gärtner sah ihn gleichgültig an.
Ivo Pavic, sagte er. Bist du als Ivo Pavic geboren?
Ja, sagte der Mann verunsichert.
Du lügst, Gärtner drehte ihn grob um und nahm ihm die Handschellen ab. Zieh dich aus.
Pavic sah ihn stumm an. In den Falten um seinen Mund und in seinen Augen flackerte eine Mischung aus Wut, Hass und Ohnmacht. Dann stürzte er sich auf Gärtner, gebeugt und mit ausgestreckten Armen. Gärtner wich zur Seite und traf ihn mit seiner Faust hinter dem Ohr. Pavic schwankte, blieb aber auf den Beinen.
Du bist gut, sagte Gärtner, du trainierst bestimmt viel im Fitnessstudio. Pavic stand da und zögerte.
Was ist, fragte Gärtner, willst du dich mit mir schlagen oder dich endlich ausziehen?
Pavic begann sich auszuziehen.
Nackte Haut, nur weiße, leere Haut, sagte Gärtner und ging um ihn herum. Ich sehe nicht, dass da irgendwo Ivo Pavic oder etwas Ähnliches geschrieben steht. Wer bist du?
Ich verstehe nicht.
Spreche ich etwa mit geschlossenem Mund?
Was willst du von mir?
Wer bist du? Auf deinem Mantel steht Hugo. Bist du Hugo?
Nein.
Warum trägst du dann einen Mantel, auf dem der Name steht?
Pavic sagte nichts.
Weißt du nicht, dass Namen nur T-Shirts sind, dass du sie an- und ausziehen kannst, wie es dir beliebt.
Was willst du von mir?
Wer bist du, wenn wir jetzt mal den Namen auf dem Mantel vergessen?
Pavic seufzte.
Weiß ich nicht, sagte er.
Natürlich weißt du es nicht, sagte Gärtner zufrieden. Aber dafür weiß ich, wer du bist. Hör mal zu, wenn du all diese Dinge, an die du dich so klammerst, ablegst, bist du nichts. Vor deiner Geburt warst du nichts. Und genauso wie wir alle bist du nur geboren worden, um in das Nichts zurückzukehren.
Du willst mich doch wohl nicht umbringen?
Volltreffer, mach dir keine Sorgen.
Nicht seine Worte, sondern der Gesichtsausdruck von Gärtner verriet, was er vorhatte. Und Pavic sank auf die Knie.
Bitte nicht, er faltete seine Hände wie zum Gebet, ich habe dir nichts getan, ich habe niemandem etwas getan.
Oh doch, sagte Gärtner, deine Spezies lebt doch vom menschlichen Unglück. Aber sei doch nicht so, es ist mir wirklich unangenehm, dich so zu sehen. Du bist sicher nicht auf die Knie gegangen, während du bei Itex aufgestiegen bist. Oder etwa doch? Du sollst immer du selbst sein. Wenn es gut läuft für dich, und auch wenn nicht. So wie Fraktale, sie bleiben gleich, ganz unabhängig vom Maßstab. Sag mal, er wechselte abrupt das Thema, hast du je Weizen gesät?
Pavic schüttelte den Kopf.
Und hast du je ein Brot gebacken, einen Obstgarten gepflegt, Fische auf einem Kutter in Kisten sortiert oder Möbel in einen Bulli geladen?
Pavic schüttelte wieder den Kopf und sah Gärtner angespannt an.
Siehst du, sagte dieser, wie ich schon sagte, ist die statistische Wahrscheinlichkeit eine sehr interessante Größe, denn sie besagt, dass du im Nu überall im ganzen Weltall landen kannst. Du kannst ein Jäger in der Taiga sein, ein König irgendwo auf dem Orion, ein Manager in irgendeiner pharmazeutischen Drecksfabrik, eine unendliche Zahl von Möglichkeiten steht vor dir, aber nur eine davon tritt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein – er zog die Pistole unter seiner Jacke hervor und entsicherte sie, Pavic begann zu zittern und zu schluchzen – nämlich dass du gleich zur Hölle fahren wirst. Sei’s drum, er seufzte und drückte ab, und am selben Morgen werden die Internetportale und Fernsehnachrichten folgendes in die Augen, Ohren und Hirne der Bürger pflanzen:
DIE UNGENIESSBAREN TÖTEN WIEDER
Zagreb, 26. Mai 2015
Der berüchtigten terroristischen Vereinigung mit dem bizarren Namen »Die Ungenießbaren« fiel erneut ein Mensch zum Opfer. Gestern wurde in den Nachmittagsstunden der 35jährige Ivo Pavic ermordet, leitender Manager von Itex, einer führenden Firmengruppe auf dem Balkan, die zwanzig landwirtschaftliche Betriebe, Baufirmen, Einzelhandelsketten und Verlagshäuser der Region unter ihrem Dach vereint. Dank eines anonymen Telefonanrufs fanden die Bestattungskräfte heute Vormittag Pavics Leiche auf einem Waldweg in der Nähe von Zagreb. Pavic war am Sonntag, den 24. Mai, entführt worden, man vermutet, dass er aus dem Teehaus »Hanshan« verschleppt wurde, das sich außerhalb der Mauer befindet und in dem zu nächtlicher Stunde häufig Zagreber Prominente auf der Suche nach unorthodoxen Vergnügungen anzutreffen sind. Es handelt sich um den achten Mord in der Zone, wie das Gebiet außerhalb der Mauer im Allgemeinen genannt wird, seitdem die Holding vor einem Jahr als Sparmaßnahme eine große Anzahl von Polizisten entlassen und die Überwachung dieses Gebietes aufgegeben hat. In sechs Fällen waren die Opfer Bürger, die innerhalb der Mauer lebten, ausnahmslos Angehörige höchster Wirtschaftskreise […]
Langsam ekelt es mich an, beschwerte sich Gärtner bei Fraktalfrau, die im Auto auf ihn wartete.
Du lügst, sagte sie, du genießt das doch.
© Luchterhand Literaturverlag
Edo Popovic: Der Aufstand der Ungenießbaren
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
192 Seiten
ISBN: 978-3-630-87357-2
17,99 Euro