Ukraine

Vom Mauerfall zum Leninfall

„Veränderungen fordern unsere Herzen!“ Das sang im Jahr 1986 der Mega-Star der sowjetischen Rockmusik, Wiktor Zoi. Ein paar Jahre später rollte die Welle der Samtenen Revolutionen durch Osteuropa, und endlich fiel die Berliner Mauer. Die „Veränderungen“ gingen über den Rahmen der geplanten Perestroika hinaus.

1989. Damals war ich 15 Jahre alt und Aktivist der „Volksbewegung der Ukraine für die Perestroika“. Die Veränderungen kamen über uns wie eine Lawine. In den Massenmedien kritisierte man die KPdSU, und die Tagungen der Volksdeputierten der UdSSR wurden zu Talkshows, in denen die kommunistischen Verbrechen enthüllt wurden.

In einer Schulpause hörte ich die Liveübertragung einer solchen Tagung im Radio. Meine Freunde aus der „Volksbewegung“ und ich lauschten aufmerksam den Worten der neuen Volksidole. Obwohl unsere Organisation das Wort „Perestroika“ im Namen führte, wussten wir, dass unser Ziel keineswegs die Umgestaltung der UdSSR ist. Wir wollten eine unabhängige Ukraine. Wir stellten uns vor, wie in unseren Städten und Dörfern feierlich blau-gelbe Fahnen gehisst werden und wie Lenindenkmäler im Freudengeschrei der Menschen weggetragen werden – so, wie die Berliner Mauer abgerissen wurde. Wir glaubten, dass es ausreicht, den Menschen die Wahrheit über die kommunistischen Verbrechen zu erzählen, damit unser Land ehrlich und würdevoll existieren kann.

Meine Freunde und ich lebten in unserer eigenen ausgedachten Welt. In der ganzen Stadt mit 300.000 Einwohnern gab es vielleicht 15 bis 20 Menschen wie uns und vielleicht 150 bis 200 ältere Aktivisten. Von meinen Mitschülern hat niemand über die sensationellen Enthüllungen der Volksdeputierten-Tagungen diskutiert. Nicht, dass meine Mitschüler gegen diese neuen Tendenzen waren, sie beachteten sie einfach nicht. Auch die Lehrer beachteten sie nicht. Nur ein junger Geschichtslehrer, nur einer in der ganzen Schule, interessierte sich für die Entwicklungen. Ich versorgte ihn mit einer oppositionellen Zeitung, die in Lemberg (Lwiw) geschrieben und in Litauen im Samisdat (Selbstverlag) gedruckt worden war.


Das Imperium fiel auseinander, seinen Subjekten war das gleich

Ich lebte in einem Arbeiterbezirk. Die Nachbarn aus unserem Hochhaus sympathisierten mit der „Volksbewegung“, denn sie hielten nichts von ihren kommunistischen Vorgesetzten. Doch im Prinzip war auch ihnen egal, was vor sich ging. Das Imperium bröckelte und fiel auseinander, doch seinen Subjekten war das gleich.

Ein Gegengewicht zur gleichgültigen Mehrheit, die wir ständig wachrütteln wollten, waren unsere aggressiven Opponenten. Stalin blieb für sie der „Vater der Völker“, sie vergötterten Lenin und glaubten, dass „alles oben entschieden“ sei. Der Gedanke daran, dass die Ukraine ohne den „großen Bruder“ Russland leben könnte, erfüllte sie mit panischer Angst. Sie nannten uns „Banderowzy“ (in Anlehnung an den ukrainischen Nationalisten und Gegner des sowjetischen Totalitarismus Stepan Bandera – d. Red.), „Faschisten“, „Mietmäuler des Westens“ und so weiter.

Zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wurde die Ukraine unabhängig. Die „Veränderungen“ setzten sich in atemberaubendem Tempo fort. Aber wir konnten die Gleichgültigen nicht auf unsere Seite ziehen. Am Tag der Verkündigung der Unabhängigkeit nahm ich mit anderen Aktivisten den Nachtzug aus Kiew nach Hause. Von allen Passagieren unterhielten sich vielleicht 20 Menschen die ganze Nacht angeregt, und sangen patriotische Lieder. Ich erinnere mich an die Ausrufe eines Mitreisenden, die in der Leere eines nächtlichen Bahnhofs verhallten: „Unabhängigkeit, Unabhängigkeit!“


Die Unabhängigkeit stellte sich als hartes Los heraus

Einige Jahre später verlor ich den Kontakt zu den meisten Aktivisten von damals. Und zwar nicht nur, weil ich zum Studieren nach Kiew ging: Die Unabhängigkeit stellte sich als ein hartes Los heraus. Wir alle, die von der „Volksbewegung“, die Gleichgültigen, unsere damaligen Gegner, waren wie Pflanzen, die in einem Gewächshaus hochgezogen worden waren. Nun entkamen wir der stickigen Luft, und es herrschte das Klima der Realität. Manche überlebten das, manche nicht. Vor ein paar Jahren traf ich meine Grundschullehrerin, die mir erzählte: „Die halbe Klasse ist wohl nicht mehr auf dieser Welt: XX starb an einer Überdosis, YY im Gefängnis.“

Vieler meiner Kollegen fingen an zu trinken, als ihr Betrieb geschlossen wurde. Und als sich das Leben wieder fügte und es wieder Arbeit gab, konnten sie nichts mehr. Sie saßen auf ihren Bänkchen mit schwarz gewordenen Gesichtern und beobachteten die Überlebenden, die sich nach und nach Autos und neue Möbel zulegten.


Die ersten Jahre der Unabhängigkeit waren wie ein schwarzes Loch

Im sowjetischen Gewächshaus hatten wir nichts vom Leben gewusst. Alles, was man uns in der Schule beigebracht hatte, stellte sich als Lüge heraus. Alles, woran wir glaubten, hatten wir uns selbst ausgedacht. Die 1990er, die ersten Jahre der Unabhängigkeit, waren wie ein schwarzes Loch, in dem kein Platz für Licht war.

Die gleichgültige Mehrheit stimmte vereint für die „Partei der Macht“, bestehend aus ehemaligen Kommunisten und freimütigen Mafiosi. Korruption, die sukzessive Verdrängung von gerade erst erkämpften demokratischen Freiheiten, die Gefahr des Verlustes der nationalen Identität und der Absorption durch Russland. Die 1990er-Jahre gebaren Oligarchen mit ihren handzahmen Parteien und einen korrupten und ineffizienten Staat. Die unabhängige Ukraine litt an sowjetischen Geschwüren, und es war niemand da, um sie zu behandeln. Unsere Vorbilder stellten sich als endlos naiv heraus. Unsere Träume waren in Wirklichkeit Kindheitsfantasien.

Über all dem standen Lenindenkmäler, wie Wachposten auf der mentalen Mauer. In jeder Stadt, in jeder Siedlung.

Doch diese Zeit verging nicht vergebens. Wir lernten, wir bereisten die Welt. Wir verstanden, wie die Ukraine aussehen muss. In der UdSSR bedeutete „ukrainisch“ „dörflich“, und unsere urbane Kultur drang durch den Asphalt der sowjetischen Ablagerungen und des russischen Kulturchauvinismus. Mit jeder Wahl bekamen proukrainische und proeuropäische Parteien mehr und mehr Stimmen in der zentralen und östlichen Ukraine.


2004 hatte die Mehrheit noch Sehnsucht nach dem Sowjetimperium

Im Jahr 2004 versuchten wir, diesem außerzeitlichen Loch zu entkommen. Drei Wochen heiteren Karnevals im Zentrum der Hauptstadt – und die Staatsmacht veränderte sich. Doch Lenin, unser symbolisches Pendant zur Berliner Mauer, blieb fest auf seinem Sockel. Die „Werte“, für die er eintrat, hatten Bestand: Die Mehrheit blickte immer noch sehnsüchtig auf das sowjetische Imperium zurück und erwartete zu viel vom Staat.

Im Jahr 2013 wurde wieder viel Zoi im Radio gespielt. „Veränderungen fordern unsere Herzen“ – dieser Schlachtruf wurde so aktuell wie vor 25 Jahren. Am Jahresende begann der Euromaidan.

Der Zerfall der UdSSR und die Orangene Revolution sahen im Januar 2014 wie ein harmloser Spaziergang aus. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden auf den Straßen Kiews keine Menschen ermordet. Janukowitsch brachte etwas fertig, woran sich die intellektuelle Elite des Landes die Zähne ausgebissen hat: Diesmal gab es keine Partei der Gleichgültigen. Die Worte der Nationalhymne, die früher vielen bis zum Erbrechen formell erschienen, lösten plötzlich bei allen Tränen aus: von Schülern bis zu Rentnern. „Wir sind bereit, Seele und Körper für unsere Freiheit zu opfern“ – so beginnt unsere Hymne, und diese Aussicht war durchaus real in Kiew, Lwiw, Charkiw, Dnipropetrowsk oder Odessa.


Anfang 2014 fielen die Lenin-Denkmäler wie Dominosteine

Und Lenin fiel! In wenigen Wintertagen fielen die Denkmäler wie Dominosteine, im ganzen Land. Endlich fanden wir uns, unsere Identität und unseren Traum: ein Teil Europas zu sein, wo – unserem Verständnis nach – vor allen Dingen die Würde des Menschen geachtet wird. Nicht umsonst wurden diese Wintertage die „Revolution der Würde“ genannt.

Dann begann der Krieg. Russland verstand, dass es die Ukraine nicht mit „soft power“ bändigen kann, und beschloss, sich die Regionen zu holen, in denen Lenin noch stand. Oder das ganze Land, wenn es klappt. Der Kreml rechnete mit einem schnellen Sieg, und dafür gab es durchaus Gründe. Doch wir gewannen diesen Krieg bereits im Februar, auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew.

Die Kreml-Analysten wussten, dass unsere Armee nicht kampffähig ist. Aber sie wussten nicht, dass wir uns verändert hatten. In ein, zwei Monaten hatten selbstorganisierte Gruppen die Armee ausgestattet, und mutige Maidan-Aktivisten gingen als Freiwillige an die Front. Der russische Blitzkrieg fiel ins Wasser.

Als ich diese Zeilen schrieb, wurde in der östlichen Millionenstadt Charkiw unter heiterem Gebrüll der Menge ein Lenindenkmal gestürzt. Ein weiteres Stück der sowjetischen Mauer, die physisch in Berlin und mental auf dem gesamten Territorium der UdSSR errichtet worden war, ist gefallen. Jetzt trennt uns nichts mehr von der freien Welt.

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin


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