Polen

Erinnerungskram. Die Biografie Wislawa Szymborskas

Kapitel 7

Die Jungvermählten im literarischen Gesindehaus in der Krupnicza-Straße

Im April 1948 verließ Wislawa Szymborska ihr Elternhaus in der Radziwillowska-Straße. Nachdem sie und Adam Wlodek geheiratet hatten, zog sie in die Einzimmerwohnung ihres Mannes im Dachgeschoss des zweiten Hinterhauses in der Krupnicza-Straße 22, das zum sogenannten literarischen Gesindehaus gehörte.

Obwohl Szymborskas Bräutigam nur ein Jahr älter war, war seine Position unter den Literaten eine ganz andere als die ihre. Da er während des Krieges enge Kontakte zum kommunistischen Untergrund unterhalten hatte und als Redakteur der Biblioteka Poetow (Bibliothek der Dichter) konspirativ am literarischen Leben teilnahm, war er in Schriftstellerkreisen bereits etabliert.



Anna Bikont / Joanna Szczesna: „Erinnerungskram. Die Biografie Wislawa Szymborskas”

Lesung in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin am Freitag, 17. Oktober 2014, 19 Uhr


[…]

Vorher hatte Szymborska in der Krupnicza nicht nur ihren zukünftigen Mann besucht, sie kam auch zu den Freitagstreffen der Gruppe junger Schriftsteller Kolo Mlodych. Von diesen Treffen kannte sie Hanna Jedlicka, damals Piekarska, die sich an Szymborskas satirischen Einakter erinnert, dessen Handlung im polnischen Emigrantenmilieu in London spielt (wo ein Soldat einer polnischen Jungfrau seine Liebe gesteht, worauf sie Schluckauf bekommt).

Als Szymborska in der Krupnicza einzog, war das Haus mit der Nummer 22, wo man nach dem Krieg zig Schriftsteller, Dichter und Übersetzer untergebracht hatte, bereits eine Legende. Dort hatte Jerzy Andrzejewski den Roman Asche und Diamant geschrieben (dessen jeweils aktuelle Teile in der Zeitschrift Odrodzenie [Wiedergeburt] unter dem Titel Gleich nach dem Krieg veröffentlicht wurden). Dort schrieb Konstanty Galczynski Isoldes Ohrringe und Die verzauberte Droschke, Jerzy Szaniawski Zwei Theater und Kazimierz Brandys einen Roman über seine Kindheit mit dem Titel Das Holzpferd. Dort wohnten auch die Witwen bekannter Schriftsteller: Jadwiga Unrug (die Frau von Witkacy) und Antonina Brzozowska (die Frau von Stanislaw Brzozowski). Für die einen war es nur eine Zwischenstation, bevor sie wieder nach Warschau zurückkehrten, andere dagegen verbrachten noch viele Jahre in der Krupnicza-Straße.

[...]

Kapitel 10

In der Schublade, in der Volksrepublik, auf dem Erdball

Im Herbst 1963 verließ Wislawa Szymborska die literarische Kolchose in der Krupnicza und zog in den sechsstöckigen Wohnblock an der Ecke 18 Stycznia- (heute Krolewska-) und Nowowiejska-Straße. Ihre neue Bleibe im vorletzten Stockwerk, wo man ständig den rumpelnden Fahrstuhl hinter der Wand hörte, war eine Einzimmerwohnung mit Kochnische. Sie war so klein, dass keine auf dem Markt erhältliche Schrankwand dort hineingepasst hätte, also bestellte Szymborska bei dem Künstler Stefan Papp ein paar Möbel, die er speziell für sie anfertigte. Auf der Sitzbank und den Stühlen konnte man es nicht länger als eine halbe Stunde aushalten, sie luden also nicht gerade dazu ein, länger zu verweilen.

Ewa Lipska, die Szymborska oft besuchte, erinnert sich an Frau Maria, die zum Putzen kam: „Die hat ständig den Kopf darüber geschüttelt, dass: ‚Ichniusia nichts macht, weil sie nur schreibt’, und dann räumte sie herumliegende Bücher in die Regale, sortierte sie von den kleinsten bis zu den größten.“

„Das war früher meine geliebte Kinderfrau“, erzählte uns Szymborska. „Sie kam zum Putzen und schimpfte, wenn etwas unordentlich herumlag. Sie durfte alles; wie man sieht, braucht jeder irgendwen, der ihn von Herzen ausschimpft.“

Als die Dichterin in einem Feuilleton die Autorin des Buchs Z Paryza – w przeszlosc (Aus Paris – in die Vergangenheit) – Aleksandra Oledzka-Frybes – für ihre Beschreibungen älterer Architektur lobte, bemerkte sie: „Ich nehme jedoch an, dass auch die Beschreibung zeitgenössischer Architektur einiges Können erfordern würde. Mit der Ausnahme unseres Wohnungsbaus, den man schon heute mit nur einem Wort beschreiben kann: Wir wohnen in Schubladen.“

Und so nannte sie auch ihre Wohnung: Schublade. Diese Bezeichnung sollte sich so einbürgern, dass ihre Freunde noch nach Jahren erzählen werden: „Als Wislawa in der Schublade wohnte...“. Dabei war die Dichterin mit ihrer neuen Wohnung recht zufrieden, besonders mit dem in der Krupnicza-Straße unbekannten Luxus einer Zentralheizung und Badewanne.

Im Jahr ihres Umzugs wurde Wislawa Szymborska vierzig Jahre alt, und sie sagte zu Aleksander Ziemny, dass das für einen Dichter das beste Alter sei. „Da hat der Mensch schon Einiges erfahren, ist aber noch zu lebendigen und intensiven Gefühlen fähig. Er hat ein Bewusstsein für die Komplexität der Dinge, doch bis zur Resignation bleibt ihm noch etwas Zeit. Er kennt Bitterkeit und die herbe, aber beflügelnde Würze, die das Gefühl für seine Schönheit nicht ausschließen. Ein wackeliges, aber gar nicht so schlechtes Gleichgewicht.“

[...]

Kapitel 19

In Stockholm auf eine Zigarette mit dem König

Am 3. Oktober 1996 war Wislawa Szymborska im Astoria - dem Haus der Kreativen Arbeit - in Zakopane und schrieb auf ihrem Zimmer gerade an einem Gedicht, als man sie zum Telefon rief. Am anderen Ende war ein Mitarbeiter der Schwedischen Akademie, der sie offiziell darüber in Kenntnis setzen wollte, dass sie den Nobelpreis bekommen hatte. Sie antwortete, sie wisse nicht, was man in so einer furchtbaren Situation mache – „ich kann hier nicht einmal in die Hohe Tatra flüchten, weil es kalt ist und regnet.“ Kurz darauf standen zwei Journalistinnen aus Bratislava, die zufällig auch in Zakopane waren, mit einem Strauss roter Rosen vor der Tür.

Doch als Erstes wollte Szymborska die Neuigkeit mit ihrer Schwester teilen.

   „Wisława rief zunächst bei uns an, um Nawoja mit dieser unerwarteten Nachricht nicht plötzlich aufzuregen“, erzählte uns Elżbieta Pindel, eine mit Szymborskas Schwester befreundete Nachbarin. „Ela, ich habe den Nobelpreis bekommen, schläft Nawoja? Dann weck sie nicht, ich rufe später an.“ Später, das hieß dann am späten Abend. Denn erst da war es ihr möglich, wieder anzurufen.

Gleich beim ersten Gespräch mit den Journalisten, die sofort ins Astoria gerannt kamen, sagte sie, sie sei überwältigt, überrascht, erfreut, entzückt und gleichzeitig entsetzt.

„Ich bin völlig entsetzt, weil ich nicht weiß, ob ich dieser Zeremonie gerecht werden kann. Ich habe ein Naturell, das solcher Art von Kontakten völlig entgegengesetzt ist, und ich werde schließlich nicht immer absagen können. Ich hätte gerne eine Doppelgängerin, eine zwanzig Jahre jüngere, die für die Fotos posieren und dann natürlich besser als ich aussehen würde. Sie würde herumfahren, sie würde Interviews geben, und ich könnte in aller Ruhe schreiben.“

„Der Nobelpreis bedeutet auch sehr viel Geld, über eine Million Dollar. Haben Sie schon daran gedacht, dass Sie mit so viel Geld nicht mehr schreiben müssten?“

„Kein Geld der Welt kann die magische Kraft, die Qual und den Genuss des Schreibens ersetzen“, antwortete Szymborska lachend.

Das kleine Zimmer der Leiterin vom Astoria wurde in ein Radiostudio umgewandelt, in dem die frischgebackene Nobelpreisträgerin auf die Fragen der Zuhörer antwortete: „Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass es wahr ist, wenn ich sage: ich habe nicht damit gerechnet, den Nobelpreis zu bekommen.“

[...]

Bei einer rasch einberufenen Pressekonferenz in der Hotelhalle sagte sie: „Ich hoffe, dass mir das nicht zu Kopf steigt.“

„Ich bin von Natur aus eine Skeptikerin, besonders was mich selbst angeht. Ich versuche, nicht zu viel über mich nachzudenken. Und das sage ich nicht, weil ich mich ziere oder beim Publikum einschmeicheln möchte – ich stehe wirklich nicht im Mittelpunkt meiner eigenen Interessen. Die Welt ist so interessant, die Menschen sind interessant, es lohnt also nicht, sich mit sich selbst zu beschäftigen.“

Szymborska ging in den Speisesaal und versuchte, dort zu Mittag zu essen. Sie nahm sich eine Dillsuppe, doch wieder klingelte das Telefon. Es war Czeslaw Milosz, der ihr zunächst  gratulierte, um ihr danach sein Mitgefühl auszudrücken, da er selbst die Bürde kenne, die sie jetzt tragen müsse.


Aus dem Polnischen von Joanna Manc

    Anna Bikont / Joanna Szczesna:
  „Pamiatkowe rupiecie. Biografia
  Wisławy Szymborskiej“

  [Erinnerungskram. Die Biografie Wislawa Szymborskas]
  Wydawnictwo Znak, Krakau 2012
  ISBN 978-83-240-1931-1


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