Inseln der Freiheit
Äste und Blätter zittern, die Kiefern und Birken krächzen, der Wald dröhnt. Je näher man der Festivalbühne in der Mitte des Wäldchens jenseits der kleinen Gemeinde Grodek kommt, desto besser kann man sie hören und spüren die Musik, den Jubel und Gesang der Menschen, der die Stille, die über diesem Ort hier im Osten Polens nahe der belarussischen Grenze für gewöhnlich liegt, für zwei Tage jedes Jahr im Sommer verscheucht.
Die Nacht hat mittlerweile ihren Umhang um die Festivalbühne geschwungen, als Aleksandr Kulinkovitsch, Sänger der belarussischen Band „Neuro Dubel“, die Hymne „Der Jäger jagt die Antilope“ anstimmt. Scharfe Riffs schneiden durch die Nacht. Die Menschen im Licht der Schweinwerfer singen jede Zeile mit. Die Lautstärke, mit der das junge Publikum die Zeilen herausschreit, ist erschlagend. Kulinkovitsch, ein Schlacks mit Reibeisenstimme, steht am Bühnenrand, einen Arm in die Hüfte gestützt, und ruft: „Lauter. Damit das auch die da drüben hören.“ Das Publikum applaudiert, schreit. Einige schwenken weiß-rot-weiße Fahnen, heute das Symbol der belarussischsprachigen Opposition, einst die Flagge des jungen, unabhängigen Belarus, bis sie vom belarussischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko 1995 gegen eine abgewandelte Version der alten Flagge der sowjetischen BSSR ausgetauscht wurde.
„Die da drüben“, das sind die Belarussen, die in diesem Jahr kein Visum für Polen ergattern konnten oder die einfach kein Geld hatten, die 60 Euro für das EU-Visum aufzubringen. In Belarus, wo der monatliche Durchschnittslohn bei rund 350 Euro liegt, ist das viel Geld. „Früher, als Polen noch nicht zur EU gehörte“, berichtet Hanna Voslkaya, Musik-Managerin und Ehefrau des berühmtesten Rockmusikers in Belarus, „war es für die jungen Belarussen noch leichter, hierhin zu kommen. Es wurden sogar Busse aus Minsk und anderen Städten organisiert. Das geht heute nicht mehr. Zwar stellen Organisationen der polnischen Minderheit in Belarus einige Visa zur Verfügung. Aber das reicht bei weitem nicht.“
Musikfestival in Ostpolen: Basowicza
Für die belarussischsprachige Jugend ist das zweitägige Rock-Festival „Basowicza“ ein jährlicher Höhepunkt. Hier feiert sie ihre Kultur, ihre Sprache – zusammen mit den Einheimischen und jungen Polen, die aus dem ganzen Land anreisen. In Belarus hat sich seit Beginn der Neunziger eine sehr aktive und lebendige Rock- und Indieszene entwickelt – trotz Repressalien, manche sagen, wegen der Repressalien durch das Regime Lukaschenko. Schließlich befördert Druck im besten Fall die Freiheit.
In „Basowicza“ treten bekannte und neue Bands auf. Zudem polnische Gruppen und Musiker aus der belarussischen Minderheit, die es in der Gegend um die ost-polnische Stadt Bialystok gibt. Schließlich wechselte die Region in ihrer Geschichte häufiger Staat und Herrscher. Das Festival war in Zeiten, als viele der bekanntesten belarussischen Band wie N.R.M., Krama, Palac oder Ulis in ihrem Land aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber Lukaschenko nicht auftreten durften, fast der einzige Ort, wo sich die Idole der belarussischsprachigen Rockmusik ihren Fans präsentieren konnten. So hat sich das Festival, das 1990 zum ersten Mal stattfand und das bis heute von belarussischen Studenten in Polen organisiert wird, zum Mythos entwickelt.
Der bekannte polnische Künstler Leon Tarasewicz wurde 1957 in der Nähe von Grodek geboren. Und dort wuchs er auf – belarussischsprachig. „Die Gegend hier ist so etwas wie ein Marc Chagall-Land. Hier kann man seinen Träumen und Fantasien nachhängen. Das Leben hier hat etwas Magisches“, erklärte der stämmige Mann mit der breiten Nase und dem breiten Lächeln, als er am Morgen sein Auto durch die Ortschaften um Grodek steuerte. Vorbei bei an Feldern, alten Holzhäusern mit Obstwiesen und Blumenbeeten. Er ist einer der Gründer des Festivals. Sein Haus in der Nähe von Grodek, wo Tarasewicz exotische Hühner züchtet, hat sich zum Mekka belarussischer Künstler entwickelt. Einmal im Jahr wird dort gesungen, diskutiert – und ausgiebig gefeiert. „Ursprünglich war das Festival eigentlich für die Belarussen hier in Polen gedacht. Zur Förderung der belarussischen Kultur und Sprache. Aber aufgrund der politischen Entwicklung hat es sich auch zu einer Pilgerstätte für die belarussischsprachige Jugend entwickelt. Viele der heute bekannten Bands sind unter anderem hier groß geworden. Das Festival ist unsere kleine Insel.“
Wenn man sich zwei Tage lang zwischen den Belarussen und ihrer Musik bewegt, wird man augenblicklich eingefangen von einer wundersamen Begeisterungsfähigkeit. Man erinnert sich daran, dass Rockmusik einmal eine unglaubliche Kraft hatte. Die Kraft, etwas zu verändern. Zudem fühlt man sich fast ein bisschen schuldig, dass Belarus noch immer ein recht einsames Dasein fristet – vergessen, gar verkannt vom westlichen Kulturleben, das sich immer noch irgendwo zwischen den USA und Spanien, zwischen Hollywood und Berlin abspielt. Und das, obwohl die Teilung Europas bereits seit 20 Jahren passé ist. Sicher, alte Grenzen wurden überwunden, Europa wächst zusammen. Aber wenn man ehrlich ist, was weiß man schon von der polnischen Literatur, vom litauischen Film oder belarussischer Rockmusik? In Mittel- und Osteuropa kann man immer noch Entdecker und Abenteurer sein.
Schlachtruf der Opposition: „Es lebe Belarus“
„Für uns ist das hier wie ein kleines Paradies, ein Märchenland“, erklärt Jana, eine junge Aktivistin aus der belarussischen Stadt Lida. „Bei uns sind wir ja Fremde im eigenen Land. Die meisten sprechen Russisch und, wenn du Belarussisch sprichst, gilt das gleich als oppositionell. Damit bist du kaum gesellschaftsfähig, auch wenn das Belarussische durch das Lukaschenko-Regime nicht mehr so stark dämonisiert wird wie vor ein paar Jahren. Aber hier sind nur Gleichgesinnte. Und niemand stört uns. Keine Polizei, kein KGB, niemand. Hier können wir einfach wir selbst sein.“ Was sie denn von den Anzeichen der politischen Öffnung halte, die vom Autokraten Lukaschenko in den letzten Monaten ausgesendet werde? Schließlich wurde Belarus im Mai im EU-Programm der östlichen Partnerschaften aufgenommen. Zudem schickt sich Lukaschenko an, sich auf der Suche nach Investoren tatsächlich mehr der EU und dem Westen annähern zu wollen, als Russland. Die belarussische Wirtschaft ist in eine tiefe Krise geraten. Damit ist auch Lukaschenkos Machtmonopol bedroht. Die Entwicklung müsse man abwarten, sagt Jana. „Eine wirkliche Demokratisierung ist bei uns noch nicht angestoßen. Klar, es dürfen einige kritische Zeitungen erscheinen. Zudem wurden einige politische Gefangene entlassen. Aber andere wurden eingesperrt. Ich arbeite selber in einer Jugendorganisation und es wäre wünschenswert, wenn sich NGOs, Zeitungen oder Parteien ohne Problem registrieren lassen könnten. Aber das ist noch alles Zukunftsmusik. Im Moment hat nur einer das Sagen: Lukaschenko.“
Richtig, stimmt ein junger Mann ein. „Und ich glaube auch nicht, dass mit Lukaschenko eine demokratische Öffnung möglich ist.“ Dann läuft er davon und ruft „Zhyvje Belarus“ – „Es lebe Belarus“ -, den Schlachtruf der belarussischsprachigen Opposition. Die Skepsis über eine etwaige demokratische Entwicklung ihres Landes, die die EU im Gegenzug für eine Ausweitung der Zusammenarbeit mit der Regierung Lukaschenkos fordert, ist unter den jungen Belarussen weit verbreitet. In den 15 Jahren, in denen Lukaschenko sein autokratisches Regime gesponnen hat, ist viel passiert. Die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im März 2006 in Minsk waren ein kleiner Hoffnungsschimmer dafür, dass sich die belarussische Gesellschaft doch gen Veränderung bewegen kann, wenn sie nur will. „Aber es reicht nicht, nur Lukaschenko beiseite zu schaffen“, erinnert Jana. „Er ist ja nur die Quintessenz des Übels. Man muss die Gesellschaft verändern. Und das wird ein langer Weg.“
Ein Festival wie „Basowicza“, auf dem man auf der Bühne sagen und tun kann, was man will, wäre in Belarus bis heute nicht denkbar. Nach einem bis etwa Ende 2007 andauernden inoffiziellen Auftrittsverbot für viele der Bands, die auch in Basowicza auftreten, finden zwar wieder mehr Konzerte und Festivals in Belarus statt. Aber nach wie vor, muss der Organisator für jedes Konzert eine Erlaubnis beim Kulturministerium einholen. Was bedeutet, dass der Staat unendlich viele Eingriffs- und Manipulationsmöglichkeiten hat. „Der Staat gibt sogar Geld für manche Festivals, weil er sich mittlerweile auch mit unseren Namen schmücken will“, berichtet Slava Koran, einer der Gründungsväter der belarussischsprachigen Rockmusik von der Band Ulis. „Aber dann heißt das, dass wir uns nicht politisch äußern und verhalten dürfen. Das passt mir und einer ganzen Reihe anderer Leute überhaupt nicht.“ Koran nippt an seinem Bier. Auf der Bühne bringt gerade die Band Krama die Massen zum Tanzen.
Das „Fest der Freiheit“ in der Ukraine
Koran lebt schon seit längerer Zeit in Warschau, wo er als Musikdirektor für das Radioprogramm „Europäisches Radio für Belarus“ arbeitet. Die polnische Hauptstadt wie auch Vilnius ist für belarussische Intellektuelle und Regimekritiker zum Anlaufhafen geworden. Zusammen mit Vital Supranowitsch vom Indie-Label BMA, das als eines der ersten Labels Mitte der Neunziger begann, belarussischsprachige Bands zu produzieren, organisiert der 54-jährige Koran seit 2008 ein neues Festival. Das „Fest Svabody“ (Fest der Freiheit) oder „be free“ findet an zwei Tagen im August in der Nähe der Ukrainischen Stadt Cernigov statt – nahe der belarussischen Grenze. Landschaftlich schön gelegen an den Ufern der Desna.
„Für die Ukraine brauchen Belarussen kein Visum“, erklärt Koran. „Deswegen kommen dorthin automatisch mehr Leute.“ 2008 sollen es 10.000 Zuschauer gewesen sein. Im Sommer 2009 wollten über 15.000 das Programm mit Bands wie B:N:, Znich oder der wohl bekanntesten belarussischen Band Lyapis Trubeckoi sehen, einer subversiven Spaß-Band, die mit ihrer Mischung aus Ska, Punk und Pop selbst im russischsprachigen Raum zu den wichigen Acts zählt.
Wie für „Basowicza“ ist auch der Eintritt für „be free“ gratis. Finanziert werden beide Festivals von kommerziellen Sponsoren wie auch gemeinnützigen Organisationen. „Wenn wir Eintritt verlangen würden“, erklärt Koran, „würde kaum jemand kommen. Geld lässt sich auf unserem mit russischer Plastik-Popmusik überflutetem Markt mit belarussischsprachiger Musik nur schwerlich verdienen. Selbst für die bekanntesten und vor allem für die als politisch geltenden Bands ist das nicht einfach.“ Dabei hat sich bereits einiges getan. Noch vor zehn Jahren galt belarussischsprachige Rockmusik den meisten Belarussen als per se qualitativ minderwertige und politisierte Musik. Betritt man heute aber beispielsweise das Geschäft „Misterija Zvuk“ in der Nähe des Jakub Kolas-Platzes in Minsk, trifft man gleich auf ein großes Regal mit belarussischer Musik, in dem man selbst die lange als verfemt geltenden Bands wie N.R.M. oder Neuro Djubel findet. Ohne Zweifel hat sich die belarussischsprachige Musik heute einen wichtigen Platz im Kulturleben von Belarus erobert.
Mittlerweile ist es spät geworden in Grodek. Es ist kurz vor Mitternacht, als der Headliner die Bühne betritt. Die Band Mroja, die seit 1994 nicht mehr existiert, hat sich für ein kurzes Konzert wieder zusammengetan. Die vierköpfige Gruppe wurde als erste belarussischsprachige Rockband von dem sowjetischen Staatslabel Melodija produziert. In den zweiten Hälfte der Achtziger, als Perestroika und Glasnost neue Freiheiten ermöglichten. Man merkt den Liedern an, dass sie aus einer anderen Zeit stammten. Die Kritik an sowjetischen Lebensverhältnissen und Apparatschiks lassen nur bei wenigen im Publikum die Augen leuchten.
Als sich die Band auflöste, gründeten drei der Mitglieder die Gruppe N.R.M., was übersetzt so viel wie „Die unabhängige Republik der Träume“ heißt. Ein Name, der wiederum daran erinnert, dass die Belarussischsprachigen von ihrem eigenen Land träumen. Mit einer Mischung aus Punk, Grunge und Hardrock und den poetisch-kritischen Texten hat ihnen Sänger Lavon Volski eine Heimat gegeben. Zudem hat er sich an die Spitze der oppositionellen Kulturbewegung in Belarus gesungen. Volski und N.R.M. gehörten zu den verbotenen Bands; und als sie sich im November 2007 zusammen mit vier bekannten Musiker-Kollegen mit dem Chefideologen der Präsidialverwaltung trafen, spalteten sie ihre Fans und Unterstützer. Ihnen wurde vorgeworfen, „einen Pakt mit dem Teufel“ eingegangen zu sein. „Wir sind überhaupt keinen Pakt eingegangen“, sagt Volski heute. „Wir wollten damals endlich wissen, warum wir nicht auftreten durften. Diese Situation war für uns unerträglich. Das Regime hat selbst verstanden, dass die Verbote und Repressionen gegen die Musikszene nur dazu führen, dass die Opposition an Zulauf gewinnt.“
Als das letzte Lied von Mroja verklungen ist, beginnen die Menschen zu schreien und zu jubeln. Schließlich legen N.R.M. los. „Irgendwann werden wir sowieso siegen“, heißt es in einem Lied der Band, das auf dem Album mit dem Titel „06“ erschienen ist. Ein Album, das von den Protesten im Jahr 2006 inspiriert wurde. „Irgendwann werden wir sowieso siegen“, singt das Publikum. So laut, dass es vielleicht sogar in Belarus zu hören ist.
Das „Fest Svabody“ findet meistens an zwei Tagen Ende August jeden Jahres statt. Und zwar in der Nähe der West-Ukrainischen Stadt Cernigov.
http://festsvabody.org/Basowicza findet meistens an zwei Tagen nahe dem polnischen Dorf Grodek im Juli statt.
http://basowiszcza.org/