Lettland - Wahl im Zeichen der Angst
Mit roten und weißen Luftballons startet die sozialdemokratische Partei „Harmoniezentrum“ ihren Wahlkampf in der Innenstadt von Riga. Aber am Stand von Lettlands stärkster Partei bleibt kaum jemand stehen. „Das ‚Harmoniezentrum’ orientiert sich in Richtung Osten, nach Russland. Unsere lettischen Parteien hingegen stehen für die Zusammenarbeit mit dem Westen“, erklärt ein junger Mann seine Abneigung gegen die sogenannte „Russenpartei“.
Am 4. Oktober wählen die zwei Millionen Letten ein neues Parlament. Wohin soll sich Lettland orientieren – nach Osten oder nach Westen, nach Europa oder nach Russland? An dieser Frage entzweien sich in der kleinen Baltenrepublik derzeit die Gemüter. In keinem anderen Land Europas hat die Einmischung Russlands in den Ukraine-Konflikt so unmittelbare Auswirkungen auf die Gesellschaft wie hier.
Die Russischstämmigen leben in einer Parallelwelt
In Lettland ist jeder dritte Bürger russischer Herkunft. Die meisten Russen wurden in der Zeit des Sozialismus angesiedelt, sie sollten damals die Baltenrepublik politisch unterwandern. Bis heute leben sie in einer Parallelwelt: Sie gehen ins russischsprachige Theater, schauen russisches Fernsehen und schicken ihre Kinder auf russische Schulen.
Aus Angst, dass sie sich unloyal verhalten würden, ist der lettische Staat mit der Vergabe der Staatsbürgerschaft an Russen bis heute sehr streng. Wer einen Pass erhalten möchte, muss eine Prüfung auf Lettisch bestehen. Die Hälfte der Minderheit verfügt deshalb nur über einen sogenannten „Nichtbürgerpass“ und darf bei der anstehenden Parlamentswahl nicht abstimmen.
Herbe Stimmverluste für die „Russenpartei“
Deshalb hat sich die Partei „Harmoniezentrum“ schon vor Jahren den lettischen Wählern zugewandt, sagt der Soziologe Arnis Kaktins vom Rigaer Meinungsforschungsinstitut SKDS. Die sozialistische Ideologie wurde abgelegt, die Liste der Kandidaten zur Hälfte mit Letten besetzt. Die Partei wollte als sozialdemokratische Volkspartei wahrgenommen werden – mit Erfolg: Bei der letzten Wahl vor drei Jahren wurde sie stärkste Kraft in der Saeima, dem lettischen Parlament. Ihr Vorsitzender, Nils Uzakovs, ist seit fünf Jahren Bürgermeister der Hauptstadt Riga.
Doch seit der Ukraine-Krise nehme die Masse der lettischen Wähler Russland als Bedrohung wahr, sagt der Soziologe Kaktins. Die Kräfteverhältnisse im Parlament werden sich bei diesen Wahlen dramatisch verschieben. Statt eines Zugewinns muss das „Harmoniezentrum“ mit Verlusten von bis zu 13 Prozent rechnen.
Die Regierungspartei profitiert von der anti-russischen Stimmung
Profitieren von dem Stimmungsumschwung wird die Einheitspartei, die seit drei Jahren die Regierung stellt – obwohl die Mehrheit der Letten unzufrieden mit ihr ist, vor allem, weil sie in diesem Jahr unter dem damaligen Ministerpräsidenten Valdi Dombrovskis den Euro eingeführt hat. Vielen Letten ist der Abschied von der Landeswährung Lats schwergefallen, die für sie eine ähnliche Bedeutung hatte wie für die Deutschen die D-Mark. Dabei steht die Euro-Einführung für eine Erfolgsgeschichte: Dombrovskis schaffte es binnen weniger Jahre, Lettland aus einer schweren Wirtschaftskrise zu holen. Dafür unterzog er das Land allerdings einem rigiden Sparkurs: In den vergangenen Jahren wurden Gehälter und Renten drastisch gekürzt, viele Privatleute mussten Kredite aufnehmen und sitzen immer noch auf einem Schuldenberg. Als im vergangenen November in Riga ein Supermarktdach einstürzte und dabei 54 Menschen starben, trat Dombrovskis zurück. Wegen der Sparmaßnahmen hatte es in Lettland jahrelang keine Bauaufsicht gegeben.
Doch die Angst vor Russland hat bei den lettischen Wählern den Frust über die Regierung beiseite geschoben. Ähnlich sieht es in den Nachbarländern Litauen und Estland aus. Die Angst, Putin könnte zum „Schutz“ der russischen Minderheit seine Soldaten ins Baltikum schicken, sitzt tief. Bereits im März, als Russland die Krim annektierte, gingen in allen drei Ländern Tausende auf die Straße. Litauens Staatschefin Dalia Grybauskaite sieht Russland im „Krieg mit Europa“, und in Estland sorgt derzeit die Verschleppung eines estnischen Geheimdienstlers an der Grenze zu Russland für Aufregung.
Ängste reichen zurück bis zur sowjetischen Besatzung
Als auf dem Nato-Gipfel in Wales Anfang September die Bildung einer neuen Eingreiftruppe beschlossen wurde, die als rotierende Speerspitze in den baltischen Ländern stationiert werden soll, jubelten die lettischen Medien. „Wir fühlen uns endlich als ein gleichberechtigtes Mitglied des Bündnisses, das sich im Ernstfall auf seine Alliierten verlassen kann“, sagt auch der Politikwissenschaftler Andris Spruds.
Erst vor 23 Jahren haben sich Litauen, Lettland und Estland ihre Unabhängigkeit erkämpft – bis dahin waren sie Mitgliedstaaten der Sowjetunion. „Auch wir wurden 1991 von sowjetischen Panzern bedroht und setzten uns auf den Barrikaden zur Wehr“, sagt eine Passantin in Riga auf die Frage, warum sie sich solidarisch mit den Ukrainern fühlt. Die Ängste vor Russland reichen aber noch weiter in die Vergangenheit zurück: Man solle sich an das Jahr 1940 erinnern. Damals sei Lettland Mitglied im Völkerbund gewesen, trotzdem habe niemand Stalin daran gehindert, sich die baltischen Länder einzuverleiben. „Ich habe Angst, dass sich die Geschichte wiederholt.“
Der Ukraine-Konflikt hat dafür gesorgt, dass die Kluft zwischen den ohnehin schlecht integrierten Russen im Land und den Letten wieder größer wird. Die meisten Bürger russischer Herkunft sehen keine Bedrohung in Moskau, viele von ihnen haben in Russland Freunde und Verwandte. „Was ist nur mit unseren Letten los? Kaum gibt es ein kleines Feuerwerk, fragen sie schon die Nato um Hilfe. Das ist einfach lächerlich!“, sagt eine Passantin. „Wir Russen leben gut im Baltikum. Meine Kinder sind Staatsbürger und wollen in Lettland bleiben. Russland hat seine Krim und alles ist gut, hier werden sie niemals einmarschieren.“
Er müsse jetzt sogar um seine russischen Wähler kämpfen, klagt Igors Puntuss, der am roten Zelt des „Harmoniezentrums“ das rot-weiße Wahlprogramm der Sozialdemokraten verteilt. Vielen sei die Partei mittlerweile zu liberal, andere beklagten, dass es so viele Letten in der Partei gebe. Deshalb hätten sich zahlreiche Wähler russischer Herkunft jetzt der radikalen „Lettisch-Russischen Union“ zugewandt. „Wenn die uns die Stimmen wegnehmen, da habe auch ich mit meinem Listenplatz 33 keine Chance mehr einen Platz im ‚Saeima‘ zu bekommen“, befürchtet Puntuss.
Der Politikwissenschaftler Juris Rozenvalds hat bereits im August beobachtet, wie zwei radikale russische Politiker der Partei im Zentrum von Riga auf Stimmenfang gegangen sind. In ihrer Anwesenheit wurde der Verein „Baltikum für Neurussland“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Eine gemeinnützige Organisation, die für ein Ende des Bürgerkriegs in der Ostukraine wirbt und humanitäre Hilfe für die sogenannten russischen Separatisten sammelt.
Auch im Baltikum träumen einige von „Neurussland“
Den Politikwissenschaftler Juris Rozenvalds stört vor allem, dass die Internetpräsenz der Bewegung mit der Endung „.su“ registriert worden ist: Eine Endung, die „Sowjetunion“ bedeutet, seit 1990 existiert und von Russland verwaltet wird. Für Juris Rozenvalds ist das Propaganda. „Mit der provokativen Endung ‚.su‘ wendet sie sich an jene Russen, die von einem ‚Neurussland‘ träumen und lieber heute als morgen die Sowjetunion zurück haben wollen. Wir können die Bewegung als Werkzeug Moskaus erkennen. Das kann Sprengkraft für die lettische Gesellschaft haben.“
Bisher haben sich einige hundert Bürger russischer Herkunft dem Verein „Baltikum für Neurussland“ angeschlossen. Im Keller eines Wohnhauses hat die Hilfsorganisation ihr Lager errichtet, in dem sich neben gebrauchter Kinderkleidung und Wintermänteln auch Shampooflaschen, Reis und Makkaroni stapeln. Die 25-jährige Tatjana sammelt Spenden bei Verwandten, Freunden und Kollegen. „Wir sehen im russischen Fernsehen, wie sehr die Russen in der Ostukraine leiden. Da kann ich nicht ruhig bleiben. Dass die ukrainische Regierung ihre eigenen Leute vernichtet, ist unfassbar. Sie nennen sie russische Separatisten, dabei verteidigen die Russen nur ihr eigenes Land.“
Trotzdem sieht es bisher nicht so aus, als könne die radikale Partei tatsächlich ins lettische Parlament einziehen. Letzten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts von Arnis Kaktins zufolge käme die „Lettisch-Russische Union“ nur auf 0,4 Prozent. Aber die Kluft zwischen Russen und Letten ist im Land gewachsen. „Die Ukraine-Krise hat die politischen Verhältnisse bei uns auf den Kopf gestellt“, sagt Soziologe Kaktins.