Polen

Kapuscinski: Polens rätselhafte Reporterlegende

Das ist eine der letzten Fotografien. Kapuscinski ist umringt von jungen Menschen, natürlich ein Lächeln im Gesicht. Es sind Mädchen und Jungen von der Leonardo-da-Vinci-Oberschule und der Universität in Trient. Es ist der 17. Oktober 2006 in einem Wirtshaus in den Bergen unweit der italienischen Stadt Bozen. Eine der Teilnehmerinnen, Anna, fragt, ob er bereit wäre, auf eine persönliche Frage zu antworten. Kapuscinski entgegnet kokett, es gebe nichts, was nicht schon über ihn geschrieben worden sei, es gebe keine Geheimnisse mehr. (Jetzt, nach der fast dreijährigen Reise durch sein Leben, weiß ich, dass viel über sein Werk geschrieben wurde, über ihn selbst aber fast nichts.) Das Mädchen ist vorbereitet, sie zitiert Kapuscinskis Gedicht:

Nur wer schlichtes Leinen trägt
kann das Leiden
des anderen empfinden
seinen Schmerz teilen

Es fragt, warum er sich in seinen Texten den armen Menschen verschrieben habe. Kapuscinski antwortet darauf, dass zwanzig Prozent der Menschen auf der Welt wohlhabend seien, der Rest arm: Ihr gehört zu den Auserwählten, ihr seid etwas Besonderes. Ihr lebt im Paradies, aber die Mehrheit hat dort keinen Zutritt. Er verrät Lebensweisheiten: Ein Mensch kann arm sein, aber nicht aus dem Grund, dass er hungrig ist oder keinen Besitz hat, sondern deshalb, weil er verachtet und geschmäht wird. »Armut, das ist ein Zustand, in dem es einem unmöglich ist, sich zu äußern.« Deshalb spreche er in ihrem Namen. Jemand müsse es tun. 

Das ist ein gewaltiges Manifest und seine letzte öffentliche Äußerung dieser Art. Kapuscinski ist schon damals erfüllt von Pessimismus und dem Gefühl des nahenden Endes. Ein paar Tage später sagt er einem Freund eine Verabredung zum Kaffee ab, es hatten sich interessante, aber unbekannte Leute angekündigt. »Es kommt im Leben der Moment, an dem wir keine neuen Gesichter mehr aufnehmen können«, notiert er später. Für die Verabredung mit den Unbekannten hätte er eine Maske, ein Lächeln aufsetzen müssen, aber er hat weder Lust darauf, noch reicht seine Kraft dafür.



Gespräch und Lesung mit Artur Domoslawski:

  • Datum: Mittwoch, 01. Oktober 2014
  • Uhrzeit: 19:00 Uhr

buch|bund
Sanderstr. 8
12047 Berlin

Mehr Infos auf der Seite des Rotbuch-Verlags


Dieses Foto wurde ein paar Jahre zuvor gemacht, in Oviedo. Es ist das Jahr 2003, Kapuscinski ist immer noch gut in Form: Er bekommt den Prinz-von-Asturien-Preis in der Kategorie Kommunikation und Humanwissenschaften verliehen, der als Nobelpreis der iberoamerikanischen Welt bezeichnet wird (wie stolz er auf ihn war!). Er ist benommen, glücklich, wird geschätzt. Als er sich bei Prinz Felipe bedankt, kann er seine Rührung kaum verbergen. Die Jury schrieb in ihrer Begründung, dass er Zeugnis gegeben habe von der Unabhängigkeit des Reporters; dass er ein halbes Jahrhundert lang unter Einsatz von Leben und Gesundheit Kriege und Konflikte auf mehreren Kontinenten beobachtet habe. Er erhielt viel Anerkennung dafür, dass er auf der Seite der Benachteiligten gestanden hat.

[…]

Und hier Fotografien mit großen Literaten. Eine ganze Serie mit dem Nobelpreisträger Gabriel García Márquez bei Journalisten-Workshops in Mexiko. García Márquez hatte ihn als Meister des Faches eingeladen, Workshops für Reporter aus Lateinamerika zu leiten. Ich erinnere mich, es bedeutete Kapuscinski sehr viel, dass die Gazeta Wyborcza ein Interview mit ihm über den Wandel in Lateinamerika mit einer dieser Fotografien illustrierte, beinahe hätte er kurz vor der Deadline den Abdruck des Gesprächs verweigert, als sich herausstellte, dass das Foto nicht auf die Seite passte. (»Dieses Interview ist nichts wert! In den Müll damit, wenn keiner weiß, weshalb ich in Mexiko war!«, rief er in knabenhaftem Zorn. Er beruhigte sich, als ich sagte, dass sich neben dem Text mit unserem Gespräch eine Notiz über seine Workshops mit García Márquez sowie die Fotografie von ihnen beiden befinden würden.)

Ein anderes Bild – von einem Abendessen mit Salman Rushdie, achtziger Jahre, New York, vielleicht auch London. Nach der Lektüre von Kapuscinskis Buch über den Krieg in Angola schrieb Rushdie, dass viele Reporter die hölzerne Stadt gesehen hätten, jedoch Kapuscinski sie als Einziger wahrgenommen habe. Er nannte ihn einen »Dechiffrierer « des unverständlichen, düsteren Jahrhunderts.

Eine Fotografie erregt meine Aufmerksamkeit nicht um ihrer selbst willen, sondern aufgrund eines späteren Textes, der mit dem darauf festgehaltenen Moment zu tun hat. Ein Café unter freiem Himmel, San Sebastián im Jahr 1996. Kapuscinski mit Pfarrer Józef Tischner, Adam Michnik und Jorge Ruiz, dem Warschauer Korrespondenten der Agentur EFE. Alle vier hatten an den Seminaren der Sommeruniversität im Baskenland teilgenommen. Michnik schrieb nach dem Tod Kapuscinskis, er habe ihn damals gefragt, wann er aufgehört habe, an den Kommunismus zu glauben. Kapuscinski antwortete, das Jahr 1956 sei entscheidend gewesen, doch er sei immer auf der Seite der Armen, Verlorenen geblieben.

Dieses Foto hier ist undatiert. Auch Kapuscinski ist darauf nicht zu sehen, er hat es selbst geschossen, aber es sagt mehr aus als manches Porträt. Auf dem Foto ist ein Tischchen, auf dem verschiedene Utensilien für die nächste Reise liegen: Bücher (einer der Titel überrascht: Africa for Beginners), Notizblöcke, kleine Portemonnaies, ein Fotoapparat, Tabletten, Fläschchen mit Herztropfen und Amol, ein paar Mappen. Ich nenne dieses Foto »Leben auf Reisen«.

[…]

Erst jetzt begreife ich, die Anordnung der Fotos beginnt mit dem Ende, und ich muss erzählen – ich selbst möchte es begreifen – von wo, auf welche Weise und auf welchem Weg er zu den Schülerinnen und Studenten in der Nähe von Bozen, zu García Márquez und Salman Rushdie, zu seinem Glauben an den Sozialismus und dessen Verlust, zu Hunderten anderen Dingen gelangt ist.Bevor also der Reporter auf die Reise gehen wird, steinige Wege beschreitet, sich durch den feindlichen Busch kämpft, bevor er auf – gegenüber einem Weißen – misstrauische Afrikaner trifft, die Wunder der undurchsichtigen Welt von Besiegten und Eroberern entdeckt, bevor er die Geheimnisse der Revolten und Revolutionen erforscht, Hunderte anderer Orte kennenlernt und Tausende unbegreiflicher Dinge erblickt, ist da Pińsk, das Haus in der Błotna-Straße, das Holzpferd, darauf der kleine Rysiek, der sein Mündchen zu einem Lächeln verzieht, einer Grimasse der Ungeduld, oder seine Augen zusammenkneift zum Schutz vor den blendenden Sonnenstrahlen.

© Rotbuch, Berlin 2014

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  Artur Domoslawski:

  Ryszard Kapuscinski. Leben und Wahrheit eines
  Jahrhundertreporters.

  Rotbuch, Berlin 2014.

  Übersetzt von Benjamin Voelkel und
  Antje Ritter-Jasinska

  704 Seiten

  ISBN 978-3-86789-185-1

  29,95 Euro


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